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Brüssel - das neue Rom

Die Idee der Einigung Europas ist mindestens zwei Jahrtausende alt.

Von Wim van Meurs

30.04.2004 · Braunschweiger Zeitung



Wer die Lenker und Denker der neuen, fünfmal erweiterten Europäischen Union mit ihren 25 Mitgliedstaaten und 450 Millionen Bürgern nach der Geschichte Europas fragt, wird sich mit Sicherheit über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft belehren lassen müssen. Wenn man bedenkt, dass die Idee der Einigung Europas mindestens zwei Jahrtausende alt ist, gibt sich Brüssel erstaunlich "geschichtslos". Statt historischer Bezüge gilt nur das Hier und Heute.

Die Osterweiterung am morgigen Tag wird zur "historischen Stunde Europas" erklärt. Gerade weil die Europäische Union der 25 kein Imperium im klassischen Sinne ist und sich mit ihren abendländischen Wurzeln schwer tut, bleibt eine Geschichte der europäischen Integration, die all zu weit über die Römischen Verträge von 1957 hinaus zurückreicht, ein unbequemes Unterfangen. Die großen Europäer der vergangenen 50 Jahre waren - mit Ausnahme von Helmut Kohl - kaum charismatische Gestalten. Kaum jemand kann heute ein Bild von Robert Schuman oder Jean Monnet vor sein geistiges Auge zaubern. Die meisten Unifikatoren Europas waren Eroberer der besten Sorte, die im Zentrum ihres jeweiligen Reiches heute noch geehrt werden, aber im Rest Europas - bei aller Anerkennung ihrer zivilisatorischen Leistungen - als europäische Werbeträger kaum salonfähig sind: Nero, Karl der Große, Napoleon. Historische Bezüge zum Römischen Reich sind verpönt. Dabei gibt es so viele Parallelen.

Wie jedes Imperium tut sich die Europäische Union schwer bei der Grenzziehung. Auch Rom wurde oftmals nicht durch Habgier und schon gar nicht von visionären Vorstellungen einer territorialen Finalité zu neuen Feldzügen und Eroberungen getrieben. Meist war es die Bedrohung der Mitgliedstaaten durch "Barbaren" außerhalb der Grenzen, die zu der Notwendigkeit führte, immer neue Gebiete zu befrieden und zu verwalten. Während sich die Osterweiterung noch auf ein ideologisches Versprechen an die Ostblockstaaten zurückführen lässt, entzünden sich die Debatten über die zivilisatorischen und Integrationsgrenzen Europas oftmals am Balkan und der Türkei. Manch einem mag dabei bewusst sein, dass das Römische Imperium durch Überdehnung untergegangen ist.

Überdehnung hat imperialen Machthabern in jeder historischen Epoche Kopfsorgen bereitet. Während die Frage des EU-Beitritts der Türkei in unseren Tagen heiß umkämpft ist, machen sich besonders mutige Europapolitiker bereits Gedanken über Nachbarschaftsbeziehungen zu den nordafrikanischen und den osteuropäischen Staaten. Das Römerreich in seiner maximalen Ausdehnung unter Hadrian (117 bis 138 nach Chr.) umfasste sogar nicht nur die afrikanische Mittelmeerküste, sondern auch Ägypten, Judäa, Syrien und Teile des Kaukasus. Eine Türkeifrage entstand aber erst mit der Teilung des Reiches. Mit der EU-Osterweiterung geht der Blick weiter gen Ost, von wo früher die Barbarenhorden anstürmten und bis Rom vordrangen. Heute liegen dort die ehemaligen Sowjetrepubliken Ukraine, Belarus und Moldawien. Das Bedrohungsempfinden in Brüssel und den europäischen Hauptstädten aber gleicht dem von damals.

Seit Asterix und Obelix weiß jedes Kind, dass es den Römern nicht gelang, ganz Europa zu unterwerfen. Das gallische Dorf des 21. Jahrhundert heißt Zypern. Es sieht danach aus, dass Verheugen und Annan heute mit friedlichen Mitteln genauso machtlos sind wie die Legionäre vor 2000 Jahren.

Das Projekt der europäischen Einigung fand mit dem Zerfall des Römischen Reiches im 5. Jahrhundert vorerst ein jähes Ende. Karl der Große war es, der sich drei Jahrhunderte später tatkräftig und nicht uneigennützig für die Einigung Europas einsetzte. Von dem viel gerühmten "deutsch-französischen Motor" der europäischen Einigung konnte zu dem Zeitpunkt keine Rede sein. Sein Bekehrungs- und Expansionseifer konfrontierte Karl den Großen mit dem beharrlichen Widerstand von Sachsen und Bayern. Als König des Fränkischen Großreiches, der sich um die Ausbreitung des Christentums nach Osten und Norden verdient gemacht hatte, hatte Karl letztlich die unangefochtene Vormacht im Abendland inne und ließ sich im Jahre 800 zum Kaiser krönen.

Die Ausdehnung seines Reiches könnte der Europäischen Union vor der Süderweiterung nachempfunden sein, sogar mit der Ostgrenze an der richtigen Stelle. Dass er bei seinen Integrationsbemühungen den Engländern den Rücken kehrte, kann einen Europäer von heute genauso wenig wundern wie seine langen und verbitterten Kämpfe mit den Dänen, die auch heute zu den Bedenkenträgern unter den EU-Mitgliedern gehören. Karl der Große gehört als Unterbrechung der römischen Kontinuität von Caesar und Trajan bis Prodi und Berlusconi sicherlich ins Pantheon der großen Europäer.

Karl der Große war es auch, der die europäische Bürokratie wiedereinführte. Bei seinen fränkischen Vorgängern war die vom EU-Kommissar Neil Kinnock angestrebte "schlanke Verwaltung" noch Realität. Hier war die Staatskasse noch eine eisenbeschlagene Truhe zu Fuße des Herrscherbettes. Von einer solchen Kontrolle über die Finanzen kann Haushaltskommissarin Michaele Schreyer heute nur träumen. Einen würdigen Nachfolger fand Karl der Große erst sieben Jahrhunderte später in seinem Namensgenossen Karl dem Fünften - einem Spanier.

Karl der Fünfte schien dagegen den PR-Leuten Brüssels als europäische Galionsfigur geeignet. Sein ferner Nachfahr Otto von Habsburg erinnerte im Europäischen Parlament regelmäßig an ihn als einsamen Pionier eines vereinten Europas. Karls größter Imagevorteil ist, dass er in den heutigen Schulbüchern nicht als besonders gewaltsamer Herrscher in Erscheinung tritt. Sein Reich entstand zum Teil durch geschickte Heiratspolitik. Dementsprechend zierte sein Bildnis 1987 die Gedenkmünze der belgischen Regierung anlässlich des 30. Jahrestages der Römischen Verträge. Dass er als Sieger in einer Schlacht gegen die Deutschen dargestellte wurde, ist als kleiner innereuropäischer Seitenhieb zu verstehen.

Das Reich der Habsburger würde jedoch die kühnsten Europäer von heute zur Verzweiflung bringen. Zwar gehörten England, Irland und Schweden nicht dazu, dafür aber Ungarn, Kroatien und große Teile des amerikanischen Kontinents. Während die EU eine (oder zwei) Hauptstädte und ein gigantisches administratives Zentrum hat, aber kein (gekröntes) Haupt, um das "Imperium" zu integrieren, wurde das Habsburger Reich als Konglomerat unterschiedlichster Staaten und Kolonien lediglich von einer Person zusammengehalten: Karl dem Fünften.

Die nächste europäische Blütezeit nach dem unvermeidlichen Zerfall des Habsburger Reiches und einigen Jahrhunderten Kleinstaaterei mit den dazugehörenden Kriegen ist äußerst paradox. Napoleon gehört sicherlich zum europäischen Selbstverständnis - nicht nur als Teilhaber der Französischen Revolution, sondern auch als genialer Feldherr. Er hat Europa geeint - nicht nur unter seinem Zepter, sondern auch in Militärbündnissen gegen sich.
Wer aber Anachronismen meidet und mit kritischem Blick den europäischen Gedanken zurückverfolgt, der landet unweigerlich in der napoleonischen Zeit. Auch der italienische Denker Giuseppe Mazzini im 19. Jahrhundert und sein deutscher Kollege Immanuel Kant ein Jahrhundert zuvor sinnierten über supranationale Strukturen auf dem alten Kontinent. Dennoch spricht vieles dafür, den Aufruf von Graf Henri de Saint-Simon an die Diplomaten des Wiener Kongresses von 1814, eine europäische Konföderation zustande zu bringen, als erste intellektuelle statt militärische Umsetzung des europäischen Gedankens zu betrachten. Zum ersten Mal war im Konzept auch ein Parlament vorgesehen - ein wirklich demokratisches Europa, was auch heute noch zu den innigsten Wünschen der Europapolitiker gehört.

Schlussendlich fängt die Geschichte Europas aber weder bei Saint-Simon noch bei den Römern an. War es nicht Zeus, Herrscher des Olymps, der sich trickreich in einen Stier verwandelte und so die Jungfrau Europa ent- und verführte? Ähnlich wie die Einigung Europas seit 1950 war auch diese mythologisch Verbindung nicht ohne Tragik, voller List und Tücke - am Ende aber fruchtbar...


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