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Ist die SPD noch zu retten?

Thesen von Werner Weidenfeld zur sozialdemokratischen Regeneration

Von Werner Weidenfeld

Anmerkung: Dieser Artikel erschien im Focus am 8. Dezember unter einer anderen, von Professor Weidenfeld nicht autorisierten Überschrift.

08.12.2003 · Focus



Die Lage der SPD ist katastrophal. Das wirkliche Ausmaß der Schwierigkeiten eröffnet sich erst bei einem Blick unter die Oberfläche: Weder das demoskopische Allzeit-Tief zur Sonntagsfrage, wo die SPD seit geraumer Zeit unter 30 % gerutscht ist, noch die verpatzte Inszenierung ihres Parteitags in Bochum beschreibt die reale Lage. Die Frage nach der Tiefendimension der Befindlichkeit eröffnet ein Bild wahrer Düsternis: Nur noch 8% der Bevölkerung vertrauen der SPD, nur 15 % halten ihre Politik für zuverlässig - und rund ein Drittel der Parteimitglieder hat in den letzten Jahren die SPD verlassen.

Dieser dramatische Blick in den Abgrund einer der großen, traditionsreichen Felsen der deutschen Demokratie muss jeden besorgt stimmen, der ein Interesse an der Stabilität der Republik hat. Ohne eine starke und selbstbewusste Sozialdemokratie verliert die Gesellschaft ein Kernelement ihrer Bindekraft.

Natürlich ist der Niedergang der SPD nur ein Teil eines umfassenderen Problems. Die Gesellschaft ist insgesamt orientierungsloser geworden. In der Konsequenz leiden alle Parteien und fast alle Institutionen unter großen Vertrauensverlusten. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht zudem keinen Unterschied mehr zwischen den Parteien. Die spezifischen Profile sind verschwunden. Die Republik verliert ihren Halt.

Die SPD trifft dies alles besonders schwer. Ihr früher stabiler Nährgrund, die Arbeiterschaft, hat sich durch Technologie, Globalisierung und Strukturwandel praktisch aufgelöst. Ihre Wählerschaft besteht heute weitgehend aus Dienstleistern und wandernden Nomaden, die ihre Stimme eher durch das kommunikative Geschick des SPD-Vorsitzenden und durch Zufälle der Natur bei der SPD platzieren. Die Tragweite dieses Vorgangs hat die SPD bis heute nicht erkannt. Sie zerrt an den großen Ankern ihrer Parteigeschichte - so wenn z.B. ihr Generalsekretär schnellzüngig den "demokratischen Sozialismus" streichen will, und dies dem Vorsitzenden Schröder nur einen verbalen Seitenhieb gegen seinen eigenen Generalsekretär während seiner Bochumer Parteitagsrede wert ist. In fast spielerischer Form werden programmatische Fragmente mal eher links, mal eher ordoliberal und rechts ausgestreut. Sicherheit der programmatischen Orientierung sieht anders aus. Entsprechend zerrissen präsentierte sich die SPD bei ihren Führungsentscheidungen. Schröder, Clement, Scholz - die Ergebnisse ließen niemanden unverwundet. Schwerwiegender noch: Dass im ersten Wahlgang zum Vorstand nur 14 von 37 Plätzen besetzt werden konnten, ist ein Menetekel.

Wie ist die SPD zu retten?

1. Die SPD wird ihre Identitätskrise nur überwinden, wenn sie ihr Selbstverständnis klärt und ihr Selbstbewusstsein stärkt. Sie muss viel mehr Kraft und Intensität auf ihre programmatische Selbstverortung lenken.

2. Die "Agenda 2010" ist der Partei quasi von außen, aus den Amtsstuben der Regierungsadministration aufgezwungen worden. Mit einer kraftraubenden Führungsleistung hat Schröder seine Partei anschließend in die Disziplin genommen. Er hat sie zur Gefolgschaft gezwungen. Die SPD muss ihre politische Perspektive künftig wieder aus ihrer eigenen Mitte, aus sich selbst heraus entwickeln, sonst wird ihr weiterer Niedergang nicht aufzuhalten sein. Wenn heute die Partei-Basis notgedrungen die Einschnitte der "Agenda 2010" ihren Mitbürgern erklärt, dann klingt dies so unbeholfen wie das erste Einüben einer Fremdsprache.

3. Die "Agenda 2010" bricht Tabus - Kündigungsschutz, Arbeitslosenhilfe, Senkung der Lohnnebenkosten, Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen. Diese Verabschiedung von Ikonen der Parteigeschichte vollzieht sich gegen den inneren Kompass der Partei. Daher ist es um so wichtiger, die programmatischen Grundbestände zu revitalisieren. Was bedeutet "demokratischer Sozialismus" in einer technologiegetriebenen, globalisierten Gesellschaft? Für welches Bild von Zukunftsgesellschaft lohnt sich der politische Kampf? Diese Arbeit an der Orientierungssicherheit der Partei muss Schröder zur Chefsache machen. Er muss sich selbst und für alle markant spürbar auf den Weg zur Heilung der sozialdemokratischen Seele machen. Ein paar saloppe PR-Sprüche und ein paar lockere Brecht-Zitate in Parteitagsreden reichen da nicht.

4. Diese neue Selbstfindung der Partei muss auch ihren personellen Ausdruck finden. Die Tatsache, dass zwei ehemalige, aber nach wie vor vitale Parteivorsitzende (Lafontaine und Scharping) den Parteitag mieden und sich Schröder in programmatischen Notfällen intellektuell nur noch auf alte Veteranen (Eppler, Vogel) stützen konnte, zeigt die Tiefe der Brüche in der SPD. In der Konsequenz führt kein Weg daran vorbei: Schröder muss sich mit seinen Vorgängern Lafontaine und Scharping versöhnen. So merkwürdig die Abgänge beider waren - nur aus der personell greifbaren Tradition als politische Kampfgemeinschaft kann die SPD wieder Fuß fassen.

Ein solches Programm der sozialdemokratischen Regeneration verlangt der gegenwärtigen SPD-Führung große Kraftanstrengungen und auch einige Selbstüberwindung ab. Aber es ist der einzige Weg zu neuer Stabilität und neuer Strahlkraft. Gelingt dies nicht, dann driftet die SPD weiter in den Abgrund - und mit ihr die ganze Republik.


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