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Das neue Europa

Jonglieren am Abgrund

Von Werner Weidenfeld

30.05.2003 · Impulse, 5/2003



Keine politische Entscheidung ist irreversibel. An diese Erfahrung erinnert uns heute ein Blick auf die Konfliktlage Europas: Auch die große Erfolgsgeschichte des Kontinents - das Werk der Integration früher verfeindeter Mächte - kann scheitern.

Unübersehbar ist der tiefgreifende Wandel der strategischen Konstellationen, die der Irak-Krieg dramatisiert hat. Plötzlich erscheint der traditionelle Kurs einer pragmatischen Fortführung des Integrationsprozesses nicht mehr ohne Alternativen. Zukunftsszenarien, die Europa in höchst unterschiedliche Richtungen driften sehen, haben Konjunktur. Man denkt über den Zerfall ebenso nach wie über den Aufbruch zur Weltmacht, über die Re-Nationalisierung ebenso wie über die Differenzierung der erweiterten Europäischen Union.

Was ist geschehen - hatte man doch eben das Tor zur Verfassungsentwicklung geöffnet und die Jahrhundertentscheidung der gemeinsamen Währung vollzogen? Die Antwort: der Krieg gegen den Irak hat elementare Existenzfragen aufgerufen, auf die seitens der europäischen Staaten mit dem Rückgriff auf ihre nationale Disposition reagiert wurde.

Auf die Frage von Krieg und Frieden haben die Europäer keine gemeinsame Wahrnehmung. Zu unterschiedlich sind die geschichtlichen Traumata und Mythen, als dass sich eine gemeinsame Basis ergäbe. Konsequent suchen die Europäer ihre jeweils eigene nationale Antwort - und die ordnet sich nicht zuletzt entlang der Beziehungslinie zu den USA als einzig verbliebener Weltmacht.

So wird erklärbar, dass die ost- und mitteleuropäischen Staaten dem Magnetismus von Markt und Macht Amerikas nachgeben. So wird erklärbar, dass Blair und Aznar ihren bisher mangelnden Einfluss auf die Gestaltung Kontinentaleuropas mit dem weltpolitischen Glanz und der ökonomischen Perspektive an der Schulter Amerikas kompensieren.

Aber so wird auch nachvollziehbar, warum Frankreich jetzt seine neue Chance zur Rückkehr auf die weltpolitische Bühne sieht - begleitet und sekundiert vom Junior-Partner Deutschlands. Was für die einen die Lockung der Nähe zu Washington ist, bedeutet für Frankreich, Russland, Deutschland und China die Notwendigkeit zur Einhegung des amerikanischen Hegemons.

Die sicherheitspolitischen Konsequenzen sind gravierend: Die Irrelevanz der NATO ist so evident geworden, dass nicht einmal mehr Nachrufe lohnen. Die Drift der Weltbilder zwischen Amerika und einem Teil Europas droht zum Kulturbruch auszuwachsen. Und der Kontinent ist gespalten. Es erscheint nur konsequent, dass nun Frankreich und Deutschland das Projekt der Verteidigungsunion ernsthaft angehen, an deren Ende das eigenständige (teil-) europäische Sicherheitsbündnis stehen wird. Die Amerikaner werden darauf reagieren und ihre Garnisonen aus dem alten Kerneuropa verlagern und damit die innereuropäische Balance aushebeln. Kurzum: Für Europa ist mit dem Irak viel mehr in Bewegung gekommen, als bisher angenommen wird.

Umso gravierender erscheint daher, dass zu all diesen welt- und sicherheitspolitischen Herausforderungen kein gemeinsamer politisch-kultureller Zugang besteht.

Im Kern fehlt Europa für weltpolitisches Handeln nicht nur ein operatives Zentrum, es fehlt vor allem strategisches Denken. Die großen Mächte Europas haben allesamt ihre weltpolitische Komponente eingebüßt - Großbritannien, Frankreich und Spanien mit dem Verlust ihrer Imperien und Kolonialreiche, Deutschland mit seinen kriegsauslösenden, wahnhaften Ausbrüchen, die zur Tabuisierung eines Denkens in weltpolitischen Interessenkategorien führte. Keiner dieser Staaten hat den Führungswillen entwickelt, den nationalen Verlust seines weltpolitischen Horizonts nun europäisch zu kompensieren.

Das Defizit an strategischem Denken erweist sich so als Achillesferse Europas. Es existiert keine Agenda, die Europa in Krisen und Konflikten eine Orientierung geben könnte. Die fehlt für die transatlantischen Auseinandersetzungen ebenso wie für den Nahen Osten, für die ethnischen Explosionen auf dem Kaukasus wie in Südostasien, für den Kaschmirkonflikt wie für den Staatenzerfall in Afrika. Erst, wenn es Europa gelingt, eine Kultur des weltpolitischen Denkens zu entwickeln, wird es eine markante gestalterische Relevanz erhalten. Europa braucht ein rationales Kalkül seiner weltpolitischen Interessen.


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