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Verlangt der entfesselte Kapitalismus nach einer neuen politischen Ökonomie?

Arbeit, Gerechtigkeit und Ökologie. Von Jürgen Turek.

24.05.2002 · Das Parlament



Gegenüber dem notierten Börsenhöchstwert der "Dotcoms" am 10. März 2000 - mit dem kumulierten Kurswert von 234 Milliarden Euro - verbrannten bei einer rasanten Talfahrt der Börsenkurse bis Anfang Mai 2001 knapp ein Drittel , das sind 73 Milliarden Euro, an Kapital. Damit hat sich ein Mythos in Rauch und Asche aufgelöst, und - darauf weist der Bremer Ökonom Rudolf Hickel in seinem neuen Buch zurecht hin - viele naive und renditehungrige Aktionäre mussten bitter lernen, dass Börsen keine Einbahnstraßen in den Himmel sind. Schnell war damit die Euphorie über die neue Wirtschafts-Wunder-Welt verpufft und rasch beschworen die ehemaligen Protagonisten des neuen Booms ohne Ende das endgültige Aus der "New Economy". An dieser aufgeregten Polarisierung zwischen "himmel-hoch-jauchzend" und "zu-tode-betrübt" setzt die Analyse Hickels an.

Irreführend

Genau so wie es irreführend gewesen sei, die Neue Ökonomie als den Aufbruch in eine wohlstandssteigernde Epoche mit Gewinn an ökonomischer Freiheit der Mitarbeiter-Unternehmer zu preisen, sei es heute falsch und voreilig, die ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen durch die technologischen Durchbrüche im Bereich der Information und Kommunikation zu bagatellisieren. Vielmehr würden die faszinierenden Produkte der Neuen Ökonomie nicht verschwinden, sondern weiter entwickelt. Der Innovationsprozeß schreite voran und verbreitere die Basis für die künftige Wertschöpfung in diesem dominanten Sektor. Es habe sich zwar gezeigt, dass die vielen Mythen zum Start in ein goldenes Zeitalter ohne Wirtschaftskrise, Inflation und Arbeitslosigkeit entzaubert worden seien und dass die Trennung zwischen Old und New Economy sich als unsinnig erwiesen habe; der Blick über die Krise zeige aber auf, dass die Internetwirtschaft auch künftig Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltig verändern werde.

Und damit kommt der Autor zum Kern seiner Analyse: der Unverträglichkeit einer Ökonomisierung der Lebenswelten durch die Neue Ökonomie mit den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Interessen der gesamten Gesellschaft an einer nachhaltigen Gesellschaftsentwicklung. Während sich gesellschaftliches Handeln an der "Ziel-Dreieinigkeit" von Arbeit, Gerechtigkeit und Ökologie zu orientieren habe, setze der Neoliberalismus auf kurzfristige Gewinne, die Förderung des Eigennutzes und verlange eine weitgehende Abstinenz des Staates bei wirtschaftlichen Belangen. Über den global kräftig angeheizten Spekulationsmechanismus und dem auch individuell immer stärker geltenden Primat der Ökonomie drohten bislang gültige ökonomische Gesetzmäßigkeiten ihre Bedeutung zu verlieren. Unter dem übermächtigen Einfluss von Spekulationen verliere die Gesamtwirtschaft ihre beschreibbaren und kalkulierbaren Strukturen. Die wirtschaftliche Krisenanfälligkeit und die Gefahr wachsender Arbeitslosigkeit nehme zu. Die Ausdehnung dieser irrationalen Systemlogik auf die gesamtgesellschaftliche Performance erhält durch das Bild der Risikospirale dann seinen denkwürdigsten Ausdruck, wenn die Totalisierung des ökonomischen Eigennutzprinzips, das auf alle Lebensentscheidungen übertragen werde, immer stärker den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft sprenge und die auf individuelle Konkurrenz zurückführbare Aggressivität erhöhe.

Besinnung

Wie Richard Sennet, Jürgen Habermas und viele andere zeigt Rudolf Hickel das Unbehagen am neuen Kapitalismus auf und mahnt die Besinnung auf grundlegende gesellschaftliche Werte sowie Bedürfnisse und den Primat der Politik im Netzwerkzeitalter an. Sein Credo ist klar und deutlich: Es sei wichtig, dass die Akteure alte und neue Regeln des seriösen Wirtschaftens und der Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen lernen. Wettbewerbs- und Wirtschaftspolitik würden nicht überflüssig, sondern dienten dem Ziel, eine weitere Drehung auf der Risikospirale zu verhindern.

Doch welche Politiken sind richtig, welche Antworten weisen den Weg? Während Hickels Monographie gewissermaßen die politische Ökonomie des Netzwerkzeitalters aus seiner Sicht wirtschafts- und sozialwissenschaftlich fundiert, unterbreiten die Autoren des von ihm und Frank Strickstrock in einem ebenfalls in diesem Jahr herausgegebenen Buch konkrete Vorschläge für politisches Handeln.

Gysis Spielräume

Ob Gregor Gysi Spielräume für eine sozial gestaltende Politik auslotet und dabei den "Dritten Weg" von New Labour als Irrweg geißelt, ob Hermann Scheer den Vorrang für Selbstbestimmung und Umwelterhaltung fordert oder ob Jean-Claude Juncker für mehr soziale Regeln in Europa plädiert: Insgesamt bündeln die einzelnen Beiträge alle Argumente, die von Globalisierungskritikern gegen eine ungebremste Internationalisierung und den "Raubtierkapitalismus" des Neoliberalismus ins Feld geführt werden und fordern die Priorität der Zieltrias von Arbeit, Gerechtigkeit und Ökologie ein.

Beide Bände und ihre Autoren stehen unmißverständlich und entschieden für eine Position, die sich in den letzten Jahren zunehmend Gehör zu verschaffen sucht: der Globalisierungskritik. Alles in allem fallen die Beschreibungen der Lage und der Antworten auf die Globalisierung durchaus unterschiedlich aus; aber allen Protagonisten eines "zivilisierten Kapitalismus" ist eines gemeinsam: sie formulieren Vorschläge, wie ein anderes Wirtschaften aussehen könne.

Rudolf Hickel:
Die Risikospirale. Was bleibt übrig von der New Economy?
Eichborn 191 S. DM 39.80

Rudolf Hickel/ Frank Strickstrock (Hrsg.):
Brauchen wir eine andere Wirtschaft?
rororo aktuell, 254 S., DM 17,41


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