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Das zukünftige Gesicht Europas

Eine Idee steht vor ihrer Vollendung: Der europäische Kontinent wächst zusammen. Artikel von Josef Janning

01.11.2002 · Deutschland Magazin



Europa ist kein Ort der kleinen Dinge mehr. Es wäre ein Missverständnis, den Gehalt europäischer Integration über die viel zitierten regulatorischen Kleinigkeiten bestimmen zu wollen – den Krümmungswinkel der Gurken auf den Wochenmärkten oder die Beschaffenheit von Traktorsitzen und Rasenmähern. Wohlfahrt und Sicherheit, klassische und elementare Leistungsbereiche des Staates, sind heute ohne die Europäische Union nicht mehr zu erbringen. Damit gehören die Integrationspolitik, ihre Verfahren und Institutionen zur Substanz und nicht zum Ornament des Politischen in Europa. Jedes große Thema der Gesellschaften auf dem Kontinent enthält zugleich eine Anfrage an den Gestaltungsbeitrag der Europäischen Union, da kaum eine Frage den Zusammenhang der Europäer noch unberührt lässt.

Eine Geschichte der Integration

Während diese zentrale Rolle des Europäischen im politischen Leben von den Bürgern Europas erst schrittweise erfasst wird, verändert sich die Europäische Union bereits wieder – mit dem Epochenwandel von 1989, dem Fall der Mauer und dem Aufbau markwirtschaftlicher Demokratien in Mittel- und Osteuropa scheint die Zeit schneller zu vergehen. Große Ereignisse und tiefe Umbrüche werden bereits Geschichte, kaum dass ihre Wirkungen und Folgen recht begriffen worden sind. Viele der geistigen Väter des Umbruchs zu Demokratie und Marktwirtschaft, die Unfreiheit und Leistungsdefizit der Diktatur über viele Jahre selbst erfahren hatten, sind längst abgetreten, abgelöst und so mancher von ihnen ist heute beinahe vergessen.

Allein Vaclav Havel, Dichter, Dissident und Präsident der Tschechischen Republik, bildet noch eine sichtbare Brücke der Kontinuität zwischen den Tagen des Winters 1989/90 und den Entscheidungen der Gegenwart: dem Nato-Gipfel von Prag im November 2002 und der Erweiterung der Allianz nach Osten wie dem Gipfel von Kopenhagen im Dezember und dem Abschluss der Beitrittsverhandlungen zur größten EU-Erweiterung in der Geschichte der Integration. Geschichte im Zeitraffer hat auch die EU selbst erlebt. Seit der deutschen Einheit folgt eine Regierungskonferenz der anderen, sind drei große Vertragsreformen beraten, verhandelt und ratifiziert worden – der Vertrag von Maastricht mit der Währungsunion im Mittelpunkt, der Vertrag von Amsterdam mit der Neugestaltung der Außenpolitik und der Vertrag von Nizza mit seinen Korrekturen an Entscheidungssystem und -verfahren. Jeder dieser Verträge wurde in der europäischen öffentlichkeit zwiespältig aufgenommen: Den einen gingen die Veränderungen entschieden zu weit, vielen anderen dagegen nicht weit genug.

Der Mehrheit in Politik und Öffentlichkeit jedenfalls erschien keine der Reformen als die volle Antwort der Integration auf die Herausforderungen eines ungeteilten Europas, sodass jede der Vertragsreformen zu ihrer Akzeptanz bereits den Verweis auf die nächste Stufe benötigte. Der Entwurf einer zukunftsfähigen politischen Ordnung für die Gemeinschaft aller europäischen Demokratien, verständlich und praktikabel zugleich, demokratisch verfasst und effizient, ein einheitliches Regierungssystem schaffend und dennoch die Eigenständigkeit der Staaten Europas bewahrend, eine Supermacht, doch kein Superstaat, wie Tony Blair gefordert hat – dieser Zukunftsentwurf des großen Europas steht aus.

Die Antwort darauf, das hat der politische Basar der Verhandlungen von Nizza gezeigt, wird nicht aus dem diplomatischen Ringen der Regierungen entstehen können, sondern ist Aufgabe des Konvents in Brüssel, in dem unter dem Vorsitz des früheren französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing Parlamentarier und Vertreter der heutigen wie der kommenden Mitglieder bis Mitte 2003 daran arbeiten, wie das große Europa verfasst sein soll.

Die Vollendung Europas

Die Kontur des Regierungssystems, das sich in den Beratungen abzeichnet, trägt die Züge klassischer Staatlichkeit – wenn auch mit deutlich umrissenen Zuständigkeiten. Das große Europa wird sich auf eine Verfassung stützen, die die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger achtet und ihre Interessen als Europäer wie als Bürger ihres Staates über das Zusammenwirken des Europäischen Parlaments und des Rates in der Gesetzgebung repräsentiert. über einen vom Parlament gewählten Präsidenten der Europäischen Kommission als Chef der Exekutive wie über einen vom Rat gewählten Präsidenten des Europäischen Rates als Vorsitzenden des Gremiums der Mitgliedstaaten, aber auch über den Hohen Repräsentanten für die Außen- und Sicherheitspolitik erhielte das Regieren in Europa die Gesichter, die für die Vermittlung wie Zuordnung politischer Entscheidungen so bedeutsam sind. Mehrheitsentscheidungen entlang klarer Regeln müssten hinzukommen, um die Entscheidungsfähigkeit in der großen Europäischen Union zu sichern.

Brüssel, Prag und Kopenhagen sind die Orte, die das nächste Kapitel in der Geschichte der Einigung des Kontinents eröffnen. Es könnte die Überschrift "Von der Vollendung Europas" tragen, denn die Entscheidungen in den drei Hauptstädten tragen in mehrfacher Hinsicht finale Züge: Wenn sie Bestand haben, umreißen sie die weitgehende Vollendung des Integrationsprozesses, erweisen sie sich jedoch als unzureichend, so könnten sie als Synonym für überdehnung und Verfall einer großen Idee in Erinnerung bleiben. Denn mit der anstehenden Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa ist die räumliche Ausdehnung der Europäischen Union weitgehend umrissen.

Sie reicht vom Atlantik bis an die Grenzen Russlands. Ihr fehlen dann noch die Schweiz, Norwegen und Island im Westen sowie die Staaten des Balkans im Südosten. Mit der anstehenden Verfassungsentwicklung durch den Konvent wäre zugleich auch die Tiefe der Integration weitgehend bestimmt – sowohl was die Zuständigkeiten der europäischen Ebene anbetrifft als auch in Bezug auf das politische und institutionelle System der Integration. Unter den klassischen Feldern staatlichen Handelns fehlte Europa nur noch die Aufgaben der Verteidigung wie der sozialen Sicherung. In beide Bereiche wirkt die europäische Ebene faktisch bereits heute hinein.

Das Gesicht des großen Europa trägt jedoch auch andere Züge als die einer Konstruktion in der Phase seiner Vollendung. Dieses andere Europa zeigt sich in den noch offenen Aufgaben der Transformationspolitik in den neuen Demokratien, zu denen auch die soziale Frage in den Marktwirtschaften Mittel- und Osteuropas gehört. Vielfach ist unter den künftigen Mitgliedern die Balance zwischen der 1989 gewonnenen nationalen Eigenständigkeit und den Anforderungen des Zusammenwirkens in einem supranationalen Regierungssystem noch nicht gefunden – sie wird in den Jahren der Mitgliedschaft schrittweise entwickelt und gesichert werden müssen.

Zwar hat die Kommission in ihrem jüngsten Fortschrittsbericht zehn der 13 Kandidaten die Beitrittsreife attestiert, doch zeigen schon die wirtschaftlichen Grunddaten, dass die Stabilisierung von Demokratie und Marktwirtschaft zusätzlicher Anstrengungen bedarf. So liegt die Inflation in der Slowakei oder in Slowenien deutlich über dem EU-Durchschnitt und auch die Arbeitslosigkeit ist in einigen der Staaten beunruhigend hoch, zum Beispiel in Litauen oder Polen und der Slowakei. Das Wohlstandsgefälle bleibt auf absehbare Zeit beträchtlich – das Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt in Lettland nur ein Drittel des EU-Durchschnitts, während es auf Zypern bereits 80 Prozent dessen der Europäischen Union erreicht.

Bulgarien, Rumänien und die Türkei, die nicht zur kommenden Erweiterungsrunde gehören, müssen noch mehr aufholen. Mit 22 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der EU und einer derzeitigen Inflationsrate von 57,6 Prozent gilt dies besonders für die Türkei; ein Hinweis darauf, dass nicht nur Defizite in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit oder der Achtung der Menschen- und Minderheitenrechte dem baldigen Beitritt im Wege stehen, sondern auch das wirtschaftliche Gefälle des 80-Millionen-Volkes zu den Staaten der Europäischen Union.

Der Prozess der Stabilisierung

Der Heranführungs- und Erweiterungsprozess der EU selbst hat sich jedoch als beachtliche Stabilisierungsleistung erwiesen. In keinem der Kandidatenländer sind die in der Region vielfach vorhandenen ethnischen Spannungen und Konflikte zu Krieg und dem Versuch des Genozids eskaliert, welche die Entwicklung des westlichen Balkans der letzten zehn Jahre bestimmt hat. Grenzfragen und Minderheitenrechte wurden überwiegend konstruktiv geregelt – auch wenn es vielfach massiven äußeren Drucks der EU bedurfte. Fast überall hat die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union für eine Kontinuität der Reformpolitik auch dort gesorgt, wo Regierungswechsel und die Pendelschläge enttäuschter Erwartungen der Wähler zu einem ständigen politischen Wechsel geführt haben. In den Gesellschaften Mittel- und Osteuropas scheinen die Erwartungen an die Wirkungen des EU-Beitritts heute noch übertrieben hoch. Dass etwa in der Wirtschaft Wirkungen des Beitritts investiv schon vorweggenommen wurden, dass der Handel bereits jetzt weitgehend liberalisiert ist, wird dabei zumeist übersehen. Die Erfolgsgeschichten früherer Beitritte, in Spanien oder Portugal, vor allem aber das irische Wirtschaftswunder, tragen zur Attraktivität der Europäischen Union bei, doch deren Voraussetzungen sind kaum bekannt. Enttäuschte Erwartungen könnten das politische Klima der ersten Jahre einer Mitgliedschaft vergiften – sie würden in der Europapolitik der neuen Mitglieder am Brüsseler Ratstisch sicher nicht ohne Folgen bleiben.

Mit dem Beitritt der zehn neuen Mitglieder 2004 und einer weiteren Welle einige Jahre darauf wird sich auch das politische Klima der Europäischen Union verändern. Die deutsch-französischen Spannungen wie die Differenzen zwischen Paris und London im Kontext des jüngsten EU-Gipfels in der belgischen Hauptstadt Brüssel haben erste Anschauungen davon vermittelt.

Das Feilschen um Stimmgewichtung und Mehrheitsentscheidung bei der Aushandlung des Vertrags von Nizza sind ebenfalls noch unvergessen. Der Kreis der Empfänger von Transferleistungen aus Brüssel wird sich vergrößern – den Forderungen aus dem Südwesten der Union wird der Bedarf des neuen Ostens gegenüberstehen, während zugleich wohlhabende Nutznießer der Agrarpolitik wie Frankreich oder Rabattempfänger wie Großbritannien eisern an ihren Besitzständen festhalten wollen. Auch Deutschland wird an seinen Sonderinteressen in der Wirtschaftspolitik festhalten wollen, obgleich Deutschland wie die EU insgesamt auch wirtschaftlichen Nutzen aus der Erweiterung der Märkte und der Standorte wie aus dem Wachstumspotenzial der neuen Mitglieder ziehen werden. Verteilungskonflikte, die schon heute zu den schwierigsten Steuerungsfragen der Europapolitik zählen, werden in der großen EU an Schärfe zunehmen – sie machen eine echte Reform des Entscheidungssystems umso dringlicher. Vieles spricht dafür, dass die Logik bisheriger Entscheidungspakete, die jedem der Beteiligten etwas zubilligten, im Europa der 25 nicht länger aufgehen wird.

Der Zwang zur Weltpolitik

Nach der Strukturreform des gegenwärtigen Konvents wird eine durchgreifende Politikreform erforderlich werden. Das Stichdatum dazu steht schon fest – es werden die Jahre 2006/07 sein, wenn der bisherige Finanzrahmen der EU neu zu verhandeln sein wird. Am Tisch werden 25 Regierungen sitzen und, hoffentlich zum letzten Mal, einstimmig eine übereinkunft über Einnahmen und Ausgaben der EU finden müssen.

Die Aufmerksamkeit der Europäer wird in diesen Jahren primär nach innen gerichtet sein, doch zum Gesicht des großen Europa wird auch eine veränderte äußere Lage gehören. Das große Europa wird noch verletzlicher und exponierter sein als die heutige EU. Sie grenzt dann unmittelbar an Zonen geringerer Stabilität und schwacher Demokratien an. Weißrussland und die Ukraine werden zu direkten Nachbarn des größten einheitlichen Marktes; der Kaukasus liegt in großer Nähe. Das große Europa wird eine aktive Ostpolitik benötigen, um die politischen Folgen der Asymmetrie in Wirtschaft und Gesellschaft entlang ihrer Außengrenzen zu verarbeiten. Zugleich wird das Gewicht Europas in Weltwirtschaft und Welthandel neue Erwartungen an die weltpolitische Rolle der Europäer wecken. Dass europäische Außenpolitik noch immer zu einem Gutteil aus der Abstimmung der Positionen untereinander besteht, dürfte in der Welt auf zunehmend weniger Verständnis stoßen. Und mit dem Beitritt der Türkei verschöbe sich die Außengrenze des europäischen Gemeinwesens an die Grenzen Syriens, des Irak und des Iran. In einem Europa, das diese Nachbarn hat, wird eine Politik der Nachbarschaft zwangsläufig zu Weltpolitik.


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