C·A·P Home > Aktuell > Pressespiegel > 2001 > Die Gentechnologie und die neue soziale Frage

Die Gentechnologie und die neue soziale Frage

Artikel von Jürgen Turek

Die Debatte um die Ethik in der Stammzellenforschung greift viel zu kurz - Die Biopolitik stellt uns vor ganz neue Herausforderungen

11.07.2001 · Handelsblatt



Endlich hat die Gentechnologie als Thema die Politik und ein breiteres Publikum erreicht. Das ist gut, wenn man bedenkt, welche rechtlichen und ethischen Konsequenzen in medizinischer Diagnose, Therapie und Prävention zu erwarten sind. Die Bioethik-Debatte Anfang Juni im Bundestag wurde immerhin von weit über 300 000 Menschen live verfolgt. Hier geht es darum, welche Forschung und daraus resultierende Begehrlichkeiten die Politik, das Recht und die Ethik in einer Gesellschaft für verantwortungsvoll halten und welche nicht.

Doch die Konsequenzen der neuen Biologie gehen über diese schwierigen ethischen Herausforderungen noch weit hinaus. Im Kern tangiert die Technologie auch das gesellschaftliche Miteinander und den sozialen Zusammenhalt moderner Gesellschaften. Die moderne Biomedizin berührt das, was als soziale Gerechtigkeit oder - allgemeiner formuliert - als faire Verhältnisse des Miteinanders über lange Zeiträume verlässlich eingefordert wird.

Die Gesellschaft in Deutschland beruht im Wesentlichen auf dem Gesellschafts- und dem Generationenvertrag. Hierzu gehört etwa das System der gesetzlich geregelten Krankenversicherung oder die Tarifautonomie, aber auch das Umlageverfahren der gesetzlichen Rentenversicherung, das in Zukunft durch individuell getragene Kapital bildende Elemente modernisiert und damit nachhaltig gestaltet werden soll. Der Kern beider Verträge ist gewesen, Sicherheit und Wohlstand für alle zu generieren und das Verhältnis der Generationen auszubalancieren. Dies waren die "Geschäftsgrundlagen" für das soziale Miteinander in Deutschland, und eigentlich möchte jeder, dass dies prinzipiell auch so bleibt.

Doch das ist zweifelhaft. Trotz aller Reformanstrengungen im Renten- und Gesundheitssystem stehen diese Systeme weiter unter Beschuss. Die Gentechnologie kann dies noch weiter verschärfen. Die genetische Identifikation von Menschen auf Chipkarten und ihre Speicherung auf Gendatenbanken wird darüber hinaus Arbeitgeber und Versicherungen interessieren.

Dies lässt eine neuartige Spaltung der deutschen Gesellschaft dann befürchten, wenn Asymmetrien durch biowissenschaftliche Innovationen bestimmte Gruppen bevorzugen und andere benachteiligen. Die notwendigen Anpassungen der Gesundheits- und Pensionssysteme sind heute ebenso unbeantwortete Fragen wie das Spektrum der Diskriminierungen gegenüber solchen, die gentechnische Einwirkungen befürworten und bezahlen können und jenen, die sich ihnen aus persönlichen Gründen verweigern. Sollten Menschen dank der Gentechnik und Biomedizin wesentlich älter werden können, als dies bislang möglich ist, während andere, weil unbehandelt, mit 60 oder 70 Jahren sterben "müssen", oder sollten Arbeitgeber auch genetische Merkmale von Arbeitsplatzbewerbern vor der Anstellung überprüfen wollen, dann stehen gewaltige Konflikte ins Haus.

Dies ist für das Aushandeln von tarifvertraglichen Grundlagen und das Konzept der zukünftigen Gesundheits- und Alterssicherungssysteme relevant. In unserer Demokratie sind alle Menschen vor Recht und Gesetz gleichgestellt, sie sind jedoch genetisch nicht identisch. Auf diesen Umstand hat - als einer der ganz wenigen - der Jenaer Professor für Molekularbiologie André Rosenthal Anfang 2001 hingewiesen.

Lebens- und Krankenversicherungen könnten der Idee verfallen, Menschen auf Grund ihrer genetischen Profile in unterschiedliche Risikogruppen ein-zuteilen. Kosten von Kranken- und Lebensversicherungen könnten dann "gerechter" verteilt werden: Genetisch gesündere Personen wälzen Kosten und Verantwortung auf "genetisch belastetere" und chronisch kranke Menschen ab.
Die Folge wäre, dass Menschen mit einem gewissen Krankheitsbild nicht oder nur zu extrem hohen Kosten privat versichert werden könnten und in den gesetzlichen Krankenkassen mit geringem Leistungsanteil angesammelt würden, während die privaten Versicherungen mit hohem Leistungsanteil den "gesünderen" Personengruppen offen stünden.

Die Perspektiven der Bio- und Gentechnologie schaffen neue Rahmenbedingungen der Gesellschafts- und Sozialpolitik, auch im Bereich des Generationenvertrages. Der Anteil der Alten gegenüber den Jungen wird stark ansteigen. Ursache dieser Verschiebung sind sinkende Geburtenraten und damit eine abnehmende Zahl potentieller Beitragszahler sowie eine steigende Lebenserwartung und damit höhere Leistungsansprüche pro Kopf.

Gentechnologie wird dazu beitragen, das Leben der Menschen noch weiter zu verlängern. Die durchschnittliche Rentenbezugsdauer wird steigen. Wenn bis zum Jahr 2025 der Altenanteil stark zunimmt, wird der prozentuale Anteil der Altersversorgung am Bruttosozialprodukt steigen, wobei die zusätzliche Last durch Beitrags- oder Steuererhöhungen von der dann erwerbstätigen Generation zu tragen ist.
Ungeachtet von Korrekturbestrebungen zeichnet sich ab, dass der große chirurgische Schnitt - das Anheben des Ruhestandalters - unvermeidbar wird, auch weil viele Arbeitsverhältnisse in Zukunft volatiler werden. Mittelfristig wird dieser Schnitt aber unausweichlich, weil sich Deutschland auf einer Schrumpfungsspirale bewegt, in der immer mehr alten Menschen immer weniger junge gegenüberstehen. Bei einer Umfrage des Bundesverbandes Deutscher Banken Ende 2000 beantworteten 65 Prozent die Frage, ob es durch die Überalterung zu Konflikten zwischen Alt und Jung kommen wird, mit einem klaren Ja. So wird die Debatte um Ethik und Gentechnologie um Konfliktpotenziale der sozialen Gerechtigkeit angereichert. Auch um diese Verbindungen werden sich Regierung und Parlament in Zukunft kümmern müssen.