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Kosovo erklärt die Unabhängigkeit

Ein weiterer Schritt im Prozess internationaler Staatsbildung

21.02.2008 · Position von Dominik Tolksdorf





Nun ist eingetreten, was seit Jahren heftig diskutiert wird: Am 17. Februar 2008 erklärte das Kosovo die Unabhängigkeit. Damit wurde nicht nur ein weiteres Kapitel bei der Gründung neuer Staaten auf dem Territorium von Ex-Jugoslawien (es sind mittlerweile sieben) geöffnet, sondern auch ein weiterer Schritt im Prozess der Staatsbildung getan, also dem Aufbau eines funktionsfähigen Staates. Mit den Auseinandersetzungen um die Anerkennung der Unabhängigkeit erreicht die Debatte nun eine neue Dimension. Denn der Fall Kosovo macht deutlich, dass sich das ursprünglich anvisierte Ziel eines Friedenskonsolidierungsprozesses mithilfe anderer Staaten in einen Staatsbildungsprozess wandeln kann, der letztlich zur Gründung neuer Staaten führt.

Weltweit befürchten viele Staaten neue Auseinandersetzungen mit ihren eigenen nationalen Minderheiten. Selbst die EU-Mitglieder sind sich in der Frage der Unabhängigkeit des Kosovo uneins. Dem Problem der Präzedenzfallwirkung werden sich die westlichen Regierungen auch im Hinblick auf ihre Westbalkan-Politik nun verstärkt zuwenden müssen. Denn als Folge der Ereignisse wird in den nächsten Monaten auch wieder die Frage nach den Aussichten eines erfolgreichen Staatsbildungsprozesses in Bosnien-Herzegowina in den Vordergrund rücken.

Friedenskonsolidierung wandelt sich in Staatsbildungsprozess

Im Fall des Kosovos hat der Staatsbildungsprozess mit Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 1244 begonnen. Bezeichnete die Resolution das Kosovo noch als integralen Bestandteil Jugoslawiens, wurde seit dem Jahr 1999 eine Entwicklung eingeleitet, der mittelfristig auf die Unabhängigkeit der Provinz hinauslaufen musste. Der ursprünglich anvisierte Prozess der Friedenskonsolidierung, der auf die Entwicklung von Strukturen abzielt, die einen Rückfall in die Gewalt verhindern sollen, wurde im Laufe der Jahre zugunsten eines Staatsbildungsprozesses uminterpretiert. So wurden seit 1999 im Kosovo Institutionen geschaffen und Erwartungen geweckt. Zwangsläufig schien es zuletzt so, als ob kaum noch eine andere Möglichkeit für die Lösung der Statusfrage außer der endgültigen Abspaltung Kosovos von Serbien bestand.

Als man im Jahr 1999 mit dem Projekt des Staatsaufbaus begann, verfügte das Kosovo über kaum Merkmale, die einen funktionierenden Staat ausmachen. Mit Abzug der serbischen Behörden bestanden keine funktionsfähige Verwaltung oder ein funktionierendes Polizei- oder Rechtssystem. Angeführt von einer UN-Übergangsverwaltung und der NATO-Schutztruppe KFOR stand die internationale Gemeinschaft vor großen Herausforderungen, die sie teilweise erfolgreich, teilweise mit niederschmetternden Ergebnissen bewältigt hat.

Erfolge und Misserfolge des Staatsbildungsprozesses im Kosovo

Einerseits konnte in den vergangenen acht Jahren der Wiederaufbau erfolgreich betrieben, die Infrastruktur wieder hergestellt und teilweise funktionierende Institutionen aufgebaut wurden.

Andererseits ist es in dieser Zeit nicht gelungen, die Minderheiten – unter anderem Serben, Roma oder Bosnjaken – zu integrieren. Auch sind kaum Flüchtlinge zurückgekehrt, die 1999 vor den Rachefeldzügen der Kosovo-Befreiungsarmee UCK geflohen sind. Die Aussichten dafür waren nicht besonders viel versprechend: Bei den letzten großen Ausschreitungen im März 2004 gegen Minderheiten und die Internationalen wurden mehrere Menschen getötet, Hunderte verletzt und viele Gebäude und Kulturgüter zerstört. So hat sich auch die demographische Lage verändert; über 90 Prozent der Bewohner des Kosovo sind heute ethnisch albanisch. Von einem multiethnischen Charakter kann im Kosovo nicht die Rede sein.

Neben der schlechten Wirtschaftslage mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 50 Prozent bestehen weiter die Probleme der weit verbreiteten Korruption und der organisierten Kriminalität. Die Behebung dieser Probleme hat die internationale Präsenz in acht Jahren genauso wenig erreicht wie eine gesicherte Energieversorgung. Mit der Unabhängigkeitserklärung hat sich Ministerpräsident Hashim Thaci zum Aufbau eines demokratischen, säkularen und multiethnischen Staates bekannt. Daran werden die kosovarischen Entscheidungsträger, aber auch die internationalen Berater, in den nächsten Jahren gemessen werden.

Unabhängigkeitserklärung spaltet die EU

Während der Prozess der Friedenskonsolidierung wenig umstritten ist, stellt es sich bei der Frage der Legitimität von Staatsbildungsprozessen anders dar. Der Fall Kosovo zeigt: Sobald diese Entwicklung tatsächlich zur Gründung eines neuen Staates führen, werden die Meinungsverschiedenheiten im internationalen Staatensystem offensichtlich. Im Zuge der Unabhängigkeitserklärung wurde daneben auch einmal mehr deutlich, wie schwierig es ist, innerhalb der Europäischen Union in fundamentalen außenpolitischen Streitfragen zu einer gemeinsamen Position zu gelangen. So hat sich seit der Zerstrittenheit der EU zur Frage des Irakkriegs wenig geändert. Während Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien die Anerkennung der Kosovo-Unabhängigkeit angekündigt oder bereits vollzogen haben, lehnen Spanien, Rumänien und Zypern diese entschieden ab. Im Gegensatz zu Bernhard Kouchner, französischer Außenminister und früherer Chef der UN-Verwaltung, der die Loslösung des Kosovo von Serbien als „großen Erfolg für Europa, ein großer Erfolg für die Kosovaren und sicher keine Niederlage für die Serben“ bezeichnete, kritisierte Rumäniens Staatspräsident Traian Basescu diese als „illegal“. Auch der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos kritisierte, dass die Loslösung nicht dem Völkerrecht entspreche. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die Parlamentswahlen Anfang März, bei dem die spanische Regierung unter dem Druck der Wähler und baskischer und katalanischer Separatisten steht. Zu den kritischen Staaten zählen auch Griechenland, die Slowakei und Bulgarien. Viele EU-Mitglieder haben sich noch nicht eindeutig geäußert und warten noch mit einer Entscheidung. Die Zerstrittenheit der EU gipfelte in einer nichtssagend-vielsagenden Erklärung des Außenministerrates einen Tag nach der Unabhängigkeitserklärung, laut der alle EU-Staaten "in Übereinstimmung mit der nationalen Praxis und dem internationalen Recht über ihre Beziehungen zu Kosovo entscheiden."

Zugute halten muss man den Befürwortern der Unabhängigkeit dagegen, dass sie, im Gegensatz zu den Ereignissen bei der Lösung Sloweniens und Kroatiens von Jugoslawien Anfang der 90er Jahre, diesmal in einer koordinierten Weise ihre Anerkennung bekannt gegeben haben.

Auch international gespaltene Meinung zur Unabhängigkeit

Wie in der EU gibt es weltweit Befürworter und Gegner einer Unabhängigkeit des Kosovo. Denn der Bruch des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen berührt tatsächlich die internationale Friedensordnung. Der Präzedenzfallwirkung des Kosovos sind sich viele Staaten bewusst, die sich bereits gegen eine Anerkennung ausgesprochen haben. Neben den zu erwarteten Vetos Russlands und Chinas – die diese Angelegenheit genauso wie die USA für internationale Machtspiele benutzen – haben sich eine Reihe anderer Staaten gegen eine Anerkennung ausgesprochen. Dies geschieht insbesondere aufgrund innenpolitischer Motive, da all diese Staaten mit eigenen Minderheitenkonflikten zu kämpfen haben, unter ihnen Indonesien (Aceh-Konflikt), Sri Lanka (Tamilen-Konflikt), Aserbaidschan (Konflikt um Berg-Karabach) und die Republik Moldau (Transnistrien-Konflikt). Auch werden viele afrikanische Staaten in der Anerkennungsfrage sehr vorsichtig sein. Denn das Letzte, was man unterstützen möchte, ist das Aufflammen neuer Sezessionsbewegungen in den eigenen, einst von den europäischen Kolonialmächten künstlich gezogenen, Grenzen.

In der Frage der Legitimation von Unabhängigkeitsbestrebungen sollte man allerdings differenziert argumentieren. Allein mit Blick auf die Bevölkerungsverhältnisse ist der Fall Kosovo sicherlich nicht vergleichbar mit Abchasien oder Südossetien, deren Präsidenten als Reaktion auf die kosovarische Unabhängigkeitserklärung die Loslösung der beiden autonomen Republiken von Georgien angekündigt haben. Beide Fälle sind daneben auch deshalb nicht mit dem Kosovo vergleichbar, weil sie im Gegensatz zu Pristina in ihren Unabhängigkeitbestrebungen nicht der Unterstützung durch eine Großmacht sicher sein können. Denn im Interesse Russlands liegt es vor allem, in Georgien die „Eingefrorenen Konflikte“ aufrecht zu erhalten und somit seinen Einflusshebel auf die georgische Innenpolitik zu behalten.

Verwendet man aber das Argument, dass die jetzige Entwicklung des Kosovo eine Folge der serbischen Brutalität in den 90er Jahren ist, wird die Argumentation schwieriger, können doch auch Tschetschenen, Kurden oder Palästinenser auf ähnliche Schicksale verweisen. Die tatsächliche Präzedenzfallwirkung des Kosovo ist deshalb heute noch nicht absehbar.

Auf EU kommen schwierige Aufgaben zu

Die Frage der Rechtmäßigkeit der Unabhängigkeit des Kosovo wird die Debatten der internationalen Beziehungen noch lange Zeit beschäftigen. Trotz der gegenwärtigen Spannungen wird man sich dagegen innerhalb der EU bald wieder auf ein gemeinsames Vorgehen gegenüber dem Kosovo einigen. So wurde auch der Entsendung der EU-Mission einstimmig zugestimmt. Und wie in den Positionen gegenüber Serbien werden sich die 27 Mitglieder auch zukünftig durch Formelkompromisse immer wieder einigen können. Eine kohärente EU-Balkanpolitik sieht zwar anders aus, mehr scheint aber auch auf absehbare Zeit im Rahmen der EU-Außenpolitik nicht möglich zu sein.

Für die UN-Verwaltung, KFOR und die EU, die in wenigen Wochen viele Verantwortungsbereiche der UN übernehmen wird, stehen vorerst ohnehin praktische Fragen im Vordergrund. So gilt es zuerst, die Sicherheit in der Region einigermaßen aufrecht zu erhalten. Dies ist bisher gelungen, auch wenn in Mitrovica im Norden Kosovos Anschläge auf UN- und EU-Gebäude verübt und Grenzposten an der Grenze zu Serbien angegriffen und in Brand gesteckt wurden. Ob tatsächlich größere Ausschreitungen ausbleiben, wird sich aber erst in den nächsten Wochen zeigen.

Mittelfristig gilt es, dass sich der neue Staat stabilisiert und sich tatsächlich zu einem demokratischen Rechtsstaat entwickelt. Die Leitlinien dazu gibt der Ahtisaari-Vorschlag vom Februar 2007 vor. Es wird sich nun zeigen, welche Vorteile die formale Unabhängigkeit wirklich mit sich bringt. Ob sich die wirtschaftliche Lage wirklich verbessern wird, indem nun verstärkt Investitionen aus dem Ausland angelockt werden, wie von Befürwortern der Unabhängigkeit stets argumentiert wurde. Ob tatsächlich die Einhaltung von Minderheitenrechten und demokratischen Standards erreicht wird. Und ob es langfristig gelingt, das Kosovo beitrittsreif für die EU zu machen. Natürlich sind diese großen Herausforderungen nicht innerhalb von ein paar Monaten zu bewältigen. Allgemein aber stehen die Kosovaren wie auch die internationale Gemeinschaft ab nun mehr denn je auf dem Prüfstand: Wird das Experiment der Staatsbildung im Kosovo letztlich aufgehen?

Neben dem Kosovo wird auch der Fall Bosnien-Herzegowina in den nächsten Wochen in den Vordergrund rücken. Denn hier droht der Staatsbildungsprozess, der seit Unterzeichnung des Dayton-Abkommens von 1995 mühevoll betrieben wird, zu scheitern. Trotz immensen Bemühungen durch die internationale Gemeinschaft gibt es kaum Anzeichen, dass der Staat zusammenwächst. In der serbischen Republik, einer der zwei bosnischen Entitäten, hat bereits die größte Oppositionspartei SDS den Kosovo als Präzedenzfall bezeichnet und ein Referendum über die Abspaltung vom Gesamtstaat gefordert. Danach soll eine Angliederung an Serbien erfolgen. Zwar ist fragwürdig, ob Belgrad an solch einer Lösung wirklich Interesse hat, und ob die serbischen Politiker in Bosnien tatsächlich bereit wären, dafür ihre jetzige Machtposition aufzugeben. Der unangenehmen Frage, warum den bosnischen Serben im Gegensatz zu den Kosovo-Albanern das Anrecht auf Selbstbestimmung verwehrt bleibt, werden sich die westlichen Regierungen und die EU nun aber dennoch stellen müssen. Es könnte argumentiert werden, dass die Serbische Republik niemals eine territoriale Verwaltungseinheit war und nur durch die Gewaltpolitik der 90er Jahre entstehen konnte. Ob aber solche rechtlichen Begründungen zukünftig ausreichen werden, um dem Argument des Selbstbestimmungsrechts der Völker entgegen zu wirken, bleibt abzuwarten.


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