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Die Berliner Rede des Bundespräsidenten

Antikes Instrument im Medienzeitalter

17.06.2008 · Position von Sophia Burkhardt



Betrachtet man die Erwartungen der Deutschen an den Bundespräsidenten, dann könnte Horst Köhler bei der Berliner Rede eigentlich auch in einer Toga auftreten. Denn der ideale Bundespräsident hat, Umfragen zufolge, eine starke persönliche Ausstrahlung, ist geistreich und gebildet sowie politisch neutral. Gleichzeitig ist er ein guter Redner, kann Menschen mitreißen und ist diplomatisch. Sieht man einmal von der politischen Neutralität ab, dann entspricht diese Beschreibung einem mehr als 2000 Jahre alten Idealbild: dem römischen "vir bonus dicendi peritus", dem "Ehrenmann, der reden kann".  Nun kann man sich natürlich darüber freuen, dass antike Tugenden hierzulande so hoch gehalten werden. Nur gab es zu Zeiten Ciceros weder Fernsehen noch Internet. Eine mehrstündige Rede auf dem Forum war unter diesen Umständen ein Ereignis. Bei allen Lippenbekenntnissen zu antiken Tugenden stellt sich deshalb die Frage: Welche Bedeutung haben die Reden des Bundespräsidenten im Medienzeitalter? 

"Public Leadership" als Domäne des Bundespräsidenten

Das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland verfügt vor allem über die Macht des Wortes. Obwohl sie im Grundgesetz mit keinem Wort erwähnt werden, gelten Reden als das zentrale Instrument des Bundespräsidenten. Dem steht eine relative strukturelle Machtlosigkeit entgegen. Laut Grundgesetz obliegen dem Bundespräsidenten vor allem repräsentative Funktionen. Beim Gesetzgebungsverfahren handelt er zusammen mit der Regierung. In den Kategorien der Leadership-Forschung (vgl. Glaab 2007) ausgedrückt, könnte man sagen: Im Bereich des "core executive leadership", wo es um die Definition der Regierungsagenda, die Entwicklung von Problemlösungskonzepten und die strategiekompatible Organisation des Regierungsapparates geht, verfügt der Bundespräsident nur über wenige formale Kompetenzen. Seine Möglichkeiten liegen vor allem im Bereich des "public leadership". Damit ist sein Rollenprofil vor allem öffentlichkeitsbezogen. Zu seinen Funktionen gehören etwa die Mobilisierung öffentlicher Zustimmung und der Erhalt von Glaubwürdigkeit, zum Beispiel über die Definition langfristiger Ziele. "Integrationsfigur" und "Impulsgeber" – das sind die Begriffe, die häufig fallen, wenn vom Bundespräsidenten die Rede ist.

Kann der Bundespräsident Themen setzen?

Dass der Bundespräsident wirklich ein Impulsgeber ist, lässt sich empirisch keineswegs nachweisen. So schrieb Dolf Sternberger: "[Die Rede des Bundespräsidenten] will die Geister ergreifen, ein moralisch-politisches Gemeingefühl erzeugen. Ihre Wirkungen freilich sind nicht messbar." Konkrete Beispiele für politische Impulse durch Reden des Bundespräsidenten sind deshalb auch spärlich gesät. Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag der deutschen Kapitulation, die Rede mit der wohl größten Prägewirkung für die Bundesrepublik, richtete sich ja eher auf die Einordnung der Geschichte. Am ehesten lässt sich noch Roman Herzogs Ruckrede von 1997 als "Impulsrede" einstufen. Wobei auch hier schwer zu belegen ist, ob Herzogs Rede tatsächlich eine Auswirkung auf das gesellschaftliche Meinungsklima hatte und zu größerer Reformbereitschaft beitrug.

Eines zeigt Herzogs Ruck-Rede aber doch: Allein kann der Bundespräsident in keinem Fall Themen und damit Impulse setzen. Er ist immer auf das Interesse der Medien angewiesen. Die Ruck-Rede hatte eine enorme Medienresonanz. Fast alle deutschen Zeitungen druckten Teile des Manuskripts, große Zeitungen gaben die Rede sogar ungekürzt wieder. Die Medien machten erst das Ereignis aus Herzogs Rede, ermöglichten ihre breite Resonanz.

Wer hat also das Thema gesetzt, der Bundespräsident oder die Medien? Betrachtet man den reformfreundlichen Eliten- und Mediendiskurs, der sich um die Jahrtausendwende entwickelte, so sind prinzipiell zwei Richtungen des Agenda Setting denkbar: Natürlich könnte der Bundespräsident das Thema gesetzt und über die Medien den Diskurs geprägt haben. Aber scheint es nicht mindestens genauso plausibel, dass die Rede des Bundespräsidenten dem herrschenden Eliten- und Mediendiskurs entsprach, und die Rede als "Aufhänger" für weitere journalistische Berichterstattung diente? Immerhin lautet ein Kernergebnis der empirischen Nachrichtenwertforschung: "Je mehr eine Meldung über ein Ereignis dem entspricht, was Journalisten für wichtig und mithin berichtenswerte Eigenschaften der Realität halten, desto größer ist ihr Nachrichtenwert." (Schulz 1976: 81).

Die Kriterien der Mediengesellschaft

Was halten nun Journalisten für berichtenswerte Eigenschaften der Realität? Die Nachrichtenwerttheorie hat eine Reihe von Kriterienlisten erarbeitet, die verschiedene Schwerpunkte legen. Es lassen sich aber für nationale Themen vier grundsätzliche Kategorien herausarbeiten (vgl. Eilders 1997: 58):

  1. Relevanz, Reichweite, Tragweite
  2. Negativismus, Konflikt, Kontroverse, Aggression, Schaden
  3. Elite-Person(en), Prominenz, persönlicher Einfluss
  4. Kontinuität, Thematisierung, Etablierung

Was bedeutet das für die aktuelle Berliner Rede mit dem Titel "Arbeit, Bildung, Integration"? Die Kriterien drei und vier werden dazu beitragen, dass die Medien die Rede des Bundespräsidenten kurzfristig zum Thema machen. Horst Köhler ist eine "Elite-Person" und die Berliner Rede ist inzwischen etabliert. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass Köhler zwar qua Amt Elite-Person ist, dass seine Reputation in der Medienöffentlichkeit aber wohl keineswegs so hoch ist, dass auf impulsgebende Reden von ihm geradezu gewartet würde. Außerdem ist sein Public Leadership beschränkt. Es ist klar, dass er seine Vorschläge nicht selbst durchsetzen kann.

Die Frage, welche Reichweite die Rede des Bundespräsidenten tatsächlich haben wird, lässt sich damit vor allem an den Kriterien eins und zwei ablesen. Was die Relevanz des Themas betrifft, so könnte man vorbringen: Arbeit, Bildung, Integration – das sind alles relevante Themen. Dennoch fehlt der Rede der Neuigkeitswert und so wird sie wohl kaum in die Geschichte der prägenden Reden von Bundespräsidenten eingehen. Auch nimmt sich Köhler durch seinen Rundumschlag über aktuelle, gesellschaftlich relevante Themen die Möglichkeit, ein spezifisches Thema zu setzen. In seiner Rede äußerte er sich zum den Themen Reformfähigkeit ("wir brauchen eine Agenda 2020"), institutionelle Reformen – wenn auch sehr vorsichtig im Konjunktiv – ("Gegen den hierzulande meist herrschenden Dauerwahlkampf ließe sich die Legislaturperiode des deutschen Bundestags auf fünf Jahre verlängern, und es könnten öfter als bisher Landtags- und Kommunalwahlen auf den selben Tag gelegt werden") und Steuerpolitik ("obendrein wirkt die Steuerbelastung zunehmend unfair"). Je nach Relevanzzuweisung seitens der Medien, kann die Berichterstattung zur Köhler-Rede also unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Relativ große Resonanz könnte das Steuerthema erhalten, da es sich hierbei um einen aktuellen Konflikt handelt, und die Aussage Köhlers als Negativismus ausgelegt werden kann – etwa im Sinne eines "Köhler bezeichnet deutsches Steuersystem als unfair". Auch das Thema einer institutionellen Reform könnte, als in Deutschland relativ stark tabuisiertes Thema, hervorgehoben werden.

Im Bezug auf Konflikt und Kontroverse wird vermutlich auch der bevorstehende Bundespräsidentenwahlkampf als Aspekt in die Berichterstattung einfließen. Die Perspektive wäre dann: Was bedeutet diese Rede für den Wahlkampf? Hat sich Köhler positioniert? Bedeutet das Lob der Agenda 2010 eine Annäherung an die Reformer in der SPD? Die Themen "Arbeit, Bildung, Integration" werden wohl kaum den Schwerpunkt der Berichterstattung darstellen.

Auch wenn die Deutschen in Umfragen die rhetorischen Fähigkeiten des Bundespräsidenten hoch schätzen, die Rede ist im modernen Medienzeitalter mit seiner schnellen, auf kurze Botschaften ausgerichteten Berichterstattung wohl kaum mehr ein besonders machtvolles Instrument. An die Stelle der Macht der Rede ist die Macht der Medien getreten.


Eilders, Christiane (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Informationen, Opladen.

Glaab, Manuela (2007): "Politische Führung als strategischer Faktor". Zeitschrift für Politikwissenschaft 17/2, S. 303-332.

Schulz, Winfried (1976): Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien. Analyse der aktuellen Berichterstattung, Freiburg i. Brsg.

Sternberger, Dolf (1979): Auch Reden sind Taten, in: Ders. Schriften XI: Sprache und Politik, Frankfurt a. M., S. 52-68.

Weitere Informationen zur aktuellen Rolle des Bundespräsidenten siehe unter "Die Stunde des Präsidenten".


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