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Wäre da nicht Europa

Zum Staatsbesuch von Angela Merkel am Freitag, 26. Januar, in Prag

23.01.2007 · Position von Michael Weigl



Ein diplomatisches Kinderspiel wird die Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel in die tschechische Hauptstadt nicht. Zwar gelten die bilateralen Beziehungen aktuell als weitgehend harmonisch. Auch entschieden die Regierungen beider Staaten zuletzt, den Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds, der Projekte zur gegenseitigen Verständigung finanziert, über das Jahr 2007 hinaus zu verlängern. In ihrer Funktion als EU-Ratsvorsitzende aber wird Merkel für ihren Plan werben, bis zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft im Sommer einen Fahrplan für den weiteren Prozess des Verfassungsvertrages zu verabschieden; ein Unterfangen, bei dem es dicke Bretter zu bohren gilt.

Dass Merkel bei ihrer Rede vor dem Europäischen Parlament Mitte Januar den Prager Schriftsteller Karel Čapek zitierte, als sie die Vielfalt in Toleranz als Wesenskern Europas zu beschreiben versuchte ("Der Schöpfer Europas machte es klein und teilte es sogar in winzige Stücke auf, so dass sich unsere Herzen nicht an der Größe, sondern an der Vielfalt erfreuen"), schmeichelt dem tschechischen Gemüt. Es beruhigt Prag auch zu wissen, dass Merkel betonte, nicht alles harmonisieren zu wollen, "was harmonisierbar wäre", und sich ausdrücklich zu einem "Europa des gleichberechtigten Miteinanders aller Mitgliedsstaaten großer wie kleiner, älterer und neuer" bekannte. Solche Töne werden in Staaten wie Tschechien, in denen die Sorge vor einem allzu großen Verlust nationaler Souveränität allgegenwärtig ist, mit Wohlwollen vernommen. Vorbehalte gegen eine Vertiefung der europäischen Integration werden durch sie allerdings noch längst nicht ausgeräumt. Staatspräsident Václav Klaus, die derzeit einzige Konstante des politischen Tschechiens, wird nicht müde, seinen EU-Skeptizismus zur Schau zu stellen. Die sich für die neuen Mitgliedsstaaten ergebenden negativen Folgen der EU-Mitgliedschaft könnten laut Klaus ihre Vorteile nicht aufwiegen. Vor einer Wiederbelebung der europäischen Verfassung warnte Klaus unlängst wieder in seiner Neujahrsansprache. Die Europäische Union biete zwar neue Möglichkeiten und beseitige viele überflüssige Barrieren, gleichzeitig organisiere, reguliere und kontrolliere sie aber das Leben der Menschen.

Widerspruch zu seinen europapolitischen Aussagen erfuhr Klaus vom Vorsitzenden der tschechischen Sozialdemokraten (ČSSD) Jiří Paroubek. Paraoubek jedoch hat aktuell einen äußerst unsicheren Stand. Als jüngst Premierminister Mirek Topolánek (ODS) eine Vertrauensabstimmung im Parlament entgegen erster Erwartungen gewann, lag dies auch an Stimmen aus Reihen der Opposition. Die ODS-Minderheitsregierung aus Bürgerlichen Demokraten, Christdemokraten (KDU-ČSL) und Grünen (SZ) kann weiter regieren, die seit den Parlamentswahlen vom Sommer 2006 andauernde Regierungskrise scheint vorerst beendet. Der ČSSD muss dagegen gegen den Geruch der Handlungsunfähigkeit ankämpfen. Mit Miloš Melčák und Michal Pohanka hatten zwei Abgeordnete aus ihren Reihen den Erfolg Topoláneks erst ermöglicht. Melčák ließ es sich darüber hinaus nicht nehmen, Paroubek massiv zu kritisieren und ihn so öffentlich bloßzustellen.

Mit Widerstand gegen ihre europapolitischen Pläne muss Merkel angesichts dieser Konstellation rechnen. Den Grünen als Mitglied der regierenden Dreierkoalition ist eine maßgebliche Korrektivfunktion kaum zuzutrauen. Merkel wird froh sein, dass zumindest ein anderes Damoklesschwert der jüngeren deutsch-tschechischen Beziehungen gegenwärtig kaum bedrohlich zu wirken vermag. Zwar sind die Pläne des Bundes der Vertriebenen (BdV) für ein Zentrum gegen Vertreibungen noch längst nicht vom Tisch. Noch immer gilt, was im Koalitionsvertrag festgehalten wurde, nämlich dass in Berlin "ein sichtbares Zeichen" gesetzt werden solle, um an "das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu ächten". Dass dies im Verbund mit dem um weitere Partnerstaaten ausgedehnten "Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität" (gegründet September 2005) geschehen solle, dürfte aber die Befürchtungen von Kritikern, dass so eine Realisierung des umstrittenen Projektes "ausgesessen" werde, nur bestätigen. An eine Konkretisierung des Projektes in Zeiten der Großen Koalition dürfte angesichts der diesbezüglichen Differenzen zwischen Union und SPD sowieso kaum zu denken sein. Und dass sich Tschechien erst gar nicht zu einer Beteiligung an diesem Netzwerk durchringen konnte, nährt den Verdacht, dass es sich bei ihm um eine Totgeburt handelt. Eine angemessene Aufarbeitung der Vertreibung im europäischen Verbund ohne eine substanzielle Beteiligung Tschechiens wäre schlichtweg absurd.

Das Thema der Vertreibung wieder aufzuwärmen, dürfte eingedenk der bilateralen Zerwürfnisse aufgrund dieses Themas in der Vergangenheit kaum in Merkels Interesse liegen. Auch aus Bayern, als Schirmherr der Sudetendeutschen traditionell auf Konfrontationskurs gegenüber Prag, sind kaum kritische Stimmen zu erwarten. Nicht nur, dass das politische Bayern derzeit andere Sorgen plagen. Auch ist zu beobachten, dass München seine Rolle als Fürsprecher sudetendeutscher Interessen seit dem Beitritt Tschechiens zur EU längst nicht mehr so ernst nimmt wie früher. Schon vor dem 1. Mai 2004 suchte Bayern hinter den Kulissen den Ausgleich. In markigen Worten wurde gegen Prag und seinen Umgang mit den Reizthemen "Vertreibung" und "Beneš-Dekrete" angegangen. Andererseits war München zugleich an intensiven und einvernehmlichen Kontakten zum Nachbarstaat interessiert. Nun, da Tschechien Partner im europäischen Haus ist, verliert die Kritik an Prag deutlich an Schärfe. Vereinzelte rhetorische Spitzen gegen den Nachbar sind inzwischen vornehmlich als Klientelpolitik gegenüber den Sudetendeutschen zu verstehen. Dass man alles versucht habe, belege die geschlossene Ablehnung des tschechischen EU-Beitritts durch die CSU-Abgeordneten im Europaparlament. Nun gelte es, das Beste aus der neuen Situation zu machen. Der weiteren Intensivierung der nachbarschaftlichen Beziehungen in der Zukunft wird Vorrang vor wenig aussichtsreichen Grabenkämpfen über die Vergangenheit eingeräumt.

Querschläger aus Reihen der Sudetendeutschen sind ruhig gestellt, das Zentrum gegen Vertreibungen dümpelt vor sich hin, der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds wird auch in den kommenden Jahren fortbestehen – die deutsch-tschechische Nachbarschaft steht aktuell unter einem guten Stern. Eigentlich könnte Merkel beruhigt nach Prag reisen. Alles könnte gut sein. Wäre da nicht Europa.


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