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Beachtlicher Erfolg – Die Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Nach dem EU-Gipfel in Brüssel

Dieser Text ist auch auf der Website des Goethe-Instituts erschienen.

18.07.2007 · Von Prof. Dr. Werner Weidenfeld



Der deutsche EU-Vorsitz fiel in eine Zeit tiefer Unsicherheit. Dissens und Widersprüchlichkeit bestimmten eine Agenda, die eigentlich nach Klarheit und Perspektive lechzt. Vor allem die Frage nach der Verfasstheit der Europäischen Union legte das konzeptionelle Schisma hinsichtlich der finalen Perspektive der Union offen.

Die Erwartungen an Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier waren hoch. Schon einmal, in den Verhandlungen zur finanziellen Vorausschau im Herbst 2005, hatte das Duo großes Geschick als Makler der Interessen bewiesen. Daher erhoffte man sich, dass die deutsche Ratspräsidentschaft die tiefe Interessenkluft zwischen den Mitgliedstaaten überbrücken und einen substanziellen Beitrag zur Ankurbelung der Integrationsdynamik Europas leisten könne. Wenn nicht Deutschland, wer sonst könnte in der festgefahrenen Verfassungsfrage eine entscheidende Weichenstellung vornehmen? Diese Initiative konnte nur von einem pro-europäischen Mitglied kommen, das voll hinter dem Verfassungsvertrag stand und zugleich das nötige politische Gewicht für die Durchsetzung eines Paradigmenwechsels in der Europäischen Union besitzt.

Die komplexe Ausgangslage barg hohe Anforderungen: Anstelle der üblichen taktischen Manöver war eine kompakte Strategie gefragt, um Handlungsfähigkeit und demokratische Verfasstheit der Europäischen Union in einer globalisierten Welt sicherzustellen. Ein reifer historischer Schritt der politischen Rettung war erforderlich. Doch wie sind vor diesem Hintergrund die Leistungen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft zu bewerten? Wo blieben die Ergebnisse hinter den Erwartungen zurück? Und was bedeutet dies für die Zukunft des europäischen Integrationsprozesses?

Das Dilemma der gescheiterten Verfassung

Die Europäische Verfassung stellt den ehrgeizigsten Versuch dar, Antworten auf die architektonischen Grundfragen der Integration zu geben. Dieser Versuch wird überschattet von nationalen Interessen und der Angst vor einem Superstaat Europa. Vordergründig wird um technokratische Bestimmungen gestritten, im Kern geht es um antagonistische Zukunftsvisionen in der EU. Nichts anderes verbirgt sich hinter dem „Non" der Franzosen und das „Nee" der Niederländer, die die Konstitutionalisierung der Union im Frühjahr 2005 vorläufig zum Stillstand brachten. Solange dies nicht klar ausgesprochen wird, kann es keine positive Klärung der Problemlage geben.

Die Dichte der europäischen Integration hat ein Niveau erreicht, das die Frage nach ihrer Verfasstheit geradezu zwanghaft aufwirft. Die Europäische Union hat den größten Binnenmarkt der Welt, sie verfügt mit dem Euro über eine der stärksten Währungen, sie ist ein wichtiger Akteur der internationalen Krisenbewältigung, sie bietet ihren Bürgern ein hohes Maß an rechtlicher und sozialer Absicherung. All dies hat die Europäische Union verwirklichen können – ohne politische Handlungsfähigkeit und supranationale Legitimation zu elementaren Kategorien ihres Daseins werden zu lassen. In jeder Situation der Integrationsgeschichte wurden je nach Einzelinteressen und Augenblicksstimmung fast zufällig Zuständigkeiten übertragen. Vom Binnenmarkt über die Währungspolitik, von der Umweltpolitik bis zur Sicherheit – alles ohne systematischen Zugang. So ist materiell ein Riese entstanden, in der Substanz blieb die Europäische Union ein Zwerg.

Dies wird in der Internationalisierung und Globalisierung als besonders schmerzlich empfunden. Gefährliche Krisenherde, weltweiter Terrorismus, Wettbewerbsdruck, Klimawandel, Ressourcenengpässe, Migration – Europa ist von den weltpolitischen Risiken extrem gefährdet. Doch komplizierte und langwierige Verfahren lähmen die Entscheidungsfindung. Die nach Europa abgewanderte Politik ist in die Falle des Taktierens, Blockierens und Ausbremsens geraten. Die Folge sind konfus getroffene Entscheidungen, Widerspruch und Ineffizienz. Angesichts der möglichen Beitritte Kroatiens, der Westbalkanstaaten und der Türkei wird sich die Situation künftig noch weiter verschärfen. Die Dramatik, mit der Europas Reformfähigkeit gefordert ist, erscheint von historischer Größenordnung.

Die zwei Gesichter der Reform

Dass sich die Staats- und Regierungschefs der Union auf ihrem Gipfel im Juni 2007 buchstäblich in letzter Minute doch noch auf einen Fahrplan zur Reform des EU-Primärrechts einigen konnten, ist vor allem auf die Verhandlungsführung der deutschen Präsidentschaft und die Kompromissbereitschaft der „Freunde der Verfassung" zurückzuführen. Bei 27 Mitgliedstaaten ist klar, dass die uneingeschränkte Durchsetzung eines nationalen Wunschkatalogs nicht möglich war. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier kam daher die schwierige Aufgabe zu, die verschiedenen Interessen und nationalen Befindlichkeiten behutsam auszubalancieren und zusammenzuführen.

Das Ergebnis ist präzise und substanzreich: Statt eines neuen Textmonstrums wird es einen knappen Änderungsvertrag geben. Dieser reformiert den „Vertrag über die Europäischen Union" und den „Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften", der in „Vertrag über die Arbeitsweise der Union" umbenannt wird. Dabei greift der Änderungsvertrag in weiten Teilen auf die Substanz des Verfassungsvertrags zurück. Damit werden im Vergleich zum geltenden Vertrag von Nizza demokratische Legitimation und Handlungsfähigkeit der EU erheblich gestärkt sowie weltpolitisches Handeln ermöglicht. Zu den zentralen Reformen gehören die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens, die Reform der Zusammensetzung der Kommission, die Wahl des Präsidenten des Europäischen Rates, die Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, die Rechtsverbindlichkeit der Charta der Grundrechte, die klarere Kompetenzabgrenzung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, die Verleihung einer eigenständigen Rechtspersönlichkeit an die EU sowie die Einführung eines europäischen Bürgerbegehrens.

Insbesondere die Einführung der „doppelten Mehrheit" ist ein Meilenstein in der Geschichte der Union. Die undurchschaubare Machtverteilung des Nizza-Vertrags ist zum Skandal geworden. Derzeit haben die großen Staaten 29 Stimmen, die kleinsten Staaten drei. Deutschland aber hätte gemessen an seiner Bevölkerung 767 Stimmen, Frankreich 554, Großbritannien 552 verdient. Dieses machtpolitische Ungleichgewicht ist auf Dauer nicht mehr hinnehmbar. Die Einführung der doppelten Mehrheit ist daher die Schlüsselqualifikation auf dem Weg zu mehr Handlungsfähigkeit und Demokratie. Die Zahl der Bürger und der Staaten als alleinige Kriterien für europäische Entscheidungen können die strukturellen Probleme der Europäischen Union weitgehend beheben. Ist dieser Entscheidungsmechanismus erst einmal etabliert, werden sich auch alle anderen Fragen im normalen politischen Prozess lösen lassen.

Doch wie bei früheren Vertragsrevisionen ist auch diesmal ein Kompromiss entstanden, der den Verfassungsfreunden einige Opfer abverlangte. So wird sich die endgültige Einführung der doppelten Mehrheit bis ins Jahr 2017 verzögern. Bis dahin gelten die Bestimmungen des Vertrags von Nizza. Diese sind allerdings nur für 27 Mitglieder gedacht. Treten wie vorgesehen Kroatien und möglicherweise weitere Staaten des Westbalkans bei, wird die Union auf eine Größe von 30 und mehr Mitgliedstaaten anwachsen. Es drohen Effizienz- und Reibungsverluste. Darüber hinaus verzichtet der nun angestrebte Reformvertrag auf die Bündelung aller Rechtsgrundlagen der EU in einem einheitlichen Dokument. Auch diesmal wird ein kleinteiliger technokratischer Text entstehen, der nur von rechtsgelehrten Spezialisten in seiner ganzen Bedeutung entziffert werden kann. Dass dem Kompromiss zudem jegliche Verfassungssymbolik zum Opfer fallen wird, nimmt der EU eine wichtige Projektionsfläche einer gemeinsamen europäischen Identität. Die Transparenz, die Europa so dringend benötigt, ist der Preis, den die Verfassungsfreunde für das Entgegenkommen der Gegner zahlen mussten. Für die Bürger Europas wird auch der neue Vertrag weitgehend versiegelt bleiben.

Fortschritt mit Hürden

Angesichts der komplexen Problemlage, in der Deutschland den EU-Vorsitz innehatte, ist der Auftrag der Bundesregierung zur Reform der Verträge der EU beachtlich. Mit dem In-Kraft-Treten des neuen Vertrags wäre ein großer Fortschritt im Vergleich zum Status Quo erzielt. Europa könnte sein Potenzial als weltpolitische Gestaltungsmacht sehr viel effektiver entfalten. Daher wird es für die nun amtierende portugiesische Ratspräsidentschaft maßgeblich darauf ankommen, die Regierungskonferenz, auf der die Vertragsgrundlage der EU endgültig in ihre neue Form gegossen werden soll, zügig und konzentriert voran zu bringen. Doch einige haben bereits wieder taktische Fallen aufgestellt: die polnische Führung hat kurz nach dem Juni-Gipfel weitere Forderungen auf den Tisch gelegt. Dies könnte eine politische Lawine auslösen und eine rücksichtslose Interessendurchsetzung durch weitere Mitgliedstaaten nach sich ziehen. Die dringend notwendige Reform der Verträge der EU, die die deutsche Ratspräsidentschaft klar umrissen hat, könnte damit erneut an einer populistischen Instrumentalisierung des politisch Notwendigen scheitern.

Endet die kommende Regierungskonferenz oder die darauf folgende Ratifikation des Vertrags in den Mitgliedstaaten erfolglos, steht Europa am Abgrund. Angesichts der hohen politischen und wirtschaftlichen Kosten eines Zerfalls der Europäischen Union kann dies jedoch nicht im Interesse der Reformgegner liegen. Es geht daher um sehr viel mehr als das übliche taktische Geplänkel. Es geht um die Wiederentdeckung der Strategie- und Gestaltungsfähigkeit Europas. Die deutsche Ratspräsidentschaft hat dafür eine feste Grundlage geschaffen.


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