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Vertrauende Misstrauer

Bundeskanzler und Bundestag schaffen die Voraussetzungen für Neuwahlen

01.07.2005 · Position von Andreas Kießling



Eigentlich war es paradox: Die Regierungskrise war in den letzten Wochen mit Händen zu greifen und dennoch konnte mit einigem Recht die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Vertrauensfrage von Gerhard Schröder am 1. Juli 2005 bezweifelt werden. Schröder und Müntefering hatten durch ihre überraschende Ankündigung nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005, vorzeitige Bundestagsneuwahlen anzustreben, eine politische Ausnahmesituation erzeugt. Vor allem hatten sie es aber versäumt, gleichzeitig eine plausible und in sich schlüssige Begründung für ihr Ziel zu liefern. Die SPD-Führung scheute sich davor auszusprechen, was offensichtlich geworden war. Die Regierung Schröder konnte nicht mehr mit der ausreichenden und permanenten Unterstützung der eigenen Fraktion rechnen. So wurden die verschiedensten Erklärungen gesucht: Zunächst sollte die angebliche Blockadepolitik der Opposition im Bundesrat verantwortlich sein, was sich allerdings als Problem erwies, weil es bei der Vertrauensfrage allein auf die Beziehung zwischen Bundeskanzler und Bundestag ankommt. Dann sollte der grüne Koalitionspartner als „Königsmörder“ fungieren – nur leider entzogen sich Bündnis90/Die Grünen durch Treueschwüre einer „uneingeschränkten Solidarität“.

In seiner Rede vor dem Parlament klärte Schröder nun die politische Lageeinschätzung: Deren Kern bildete die Aussage, dass seine eigene Fraktion ihm nicht mehr das stetige Vertrauen entgegen bringt. Der Bundeskanzler nannte dafür auch konkrete Gründe wie etwa die Tatsache, dass bereits vor der NRW-Wahl einige Abgeordnete ein abweichendes Stimmverhalten angekündigt und sogar mit dem Übertritt in die neue Linkspartei gedroht hatten. Zudem verwies er darauf, dass seine Mehrheit seit 2002 durch den Wegfall von Überhangmandaten geschrumpft war. Mit dem klaren Verfehlen der Kanzlermehrheit für Schröders Antrag nach Art. 68 GG sind damit nicht nur die formalen, sondern auch die materiellen Voraussetzungen für eine vorzeitige Auflösung des Bundestages gegeben. Die Aussage Münteferings in der Debatte, die SPD-Fraktion vertraue dem Kanzler, war dafür zwar kontraproduktiv. Doch hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zur Vertrauensfrage von Kohl aus dem Jahr 1983 deutlich gemacht, dass es auf die Beurteilungs- und Ermessenskompetenz des Bundeskanzlers ankommt und nicht auf die eines Fraktionsvorsitzenden. Im Zweifel wiegt also das Wort des Bundeskanzlers mehr.

Hinzu kommt, dass auch der Vorwurf des Abgeordneten Werner Schulz, Schröder habe eine „unechte Vertrauensfrage“ gestellt und es sei ein „groteskes Theater“ aufgeführt worden, weniger den Bundeskanzler trifft als dessen innerparteiliche Gegner. Denn absurd waren eher die plötzlichen Vertrauensschwüre, die meist genau von denjenigen aus der SPD-Fraktion kamen, die die Politik der Bundesregierung seit der Verkündung der Agenda 2010 kritisierten. Die Dialektik der heutigen Abstimmung liegt also darin, dass eine große Anzahl derer, die dem Kanzler das Vertrauen ausgesprochen haben, diejenigen sind, die Schröder misstrauen. Zieht man diese vertrauenden Misstrauer von der nötigen Kanzlermehrheit ab, so wird das Ausmaß der Regierungskrise offenbar.

Die Entscheidung liegt nun beim Bundespräsidenten. Nach dem benannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts muss er die Beurteilung des Bundeskanzlers beachten, „wenn nicht eine andere, die Auflösung verwehrende Einschätzung der politischen Lage der Einschätzung des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen ist.“ Dies zu überprüfen, liegt wiederum im pflichtgemäßen Ermessen von Horst Köhler. Vieles spricht dafür, dass eine solche andere Einschätzung nicht eindeutig gegeben ist. Allerdings sollte sich die Berliner Mediendemokratie aus Respekt vor dem höchsten Amt nun in Geduld üben.

Der ganze Vorgang machte aber eine zentrale Schwäche der Regierung Schröder deutlich, die seit 1998 das Erscheinungsbild der rot-grünen Koalition prägt. Schröders Politikstil der  Ankündigungen ex cathedra vernachlässigten die innerparteiliche Legitimation. Dadurch wurde schon nach dem Abgang von Oskar Lafontaine die Chance zur programmatischen Neuorientierung verpasst und damit der Grundstein für das heutige desaströse Erscheinungsbild der SPD gelegt. Das Schröder-Blair-Papier von 1999 hätte ein Ansatzpunkt für diese Erneuerung bilden können. Es scheiterte jedoch daran, dass keine parteiinterne Mitwirkung möglich war. Ähnliches gilt für die Agenda 2010 – wie das Buch von Sebastian Fischer (Gerhard Schröder und die SPD, Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 17) deutlich macht.

Wenn es zur vorzeitigen Neuwahlen kommt, muss die SPD nach zwei Seiten kämpfen: einerseits gegen die neue Linkspartei, die droht, ins sozialdemokratische Stammwählerlager einzudringen, andererseits gegen Union und FDP, die dabei sind, die von Schröder 1998 gewonnene „Neue Mitte“ hinter sich zu scharen. Mit der sich abzeichnenden sozialpopulistischen Wende (Reichensteuer, Veränderung von Hartz IV) kann beides gleichzeitig nicht gelingen – zumal zusätzlich ein massives Glaubwürdigkeitsdefizit überwunden werden müsste.


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