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Ein Wirtschafts- und Sozialmodell für Europa?

Untersuchung eines instrumentalisierten Begriffs

Die britische EU-Ratspräsidentschaft hat die Frage nach der Zukunft des Europäischen Sozialmodells zum zentralen Diskussionsgegenstand ihrer Agenda gemacht. Ist das pure Taktik oder tatsächlich der Beginn einer Debatte um eine neue Integrationsstrategie für die Europäische Union des 21. Jahrhunderts? Ruth Adam ordnet den Begriff des "Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells" ein und stellt sein Potenzial als Instrument für einen neuen Systemwettbewerb in der EU dar. Ruth Adam ist Studentin der Sozialwissenschaften.

25.10.2005 · Von Ruth Adam



Ein zentrales Schlagwort der europapolitischen Debatte des Jahres 2005 ist das "Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell". Die negativ beantworteten Referenden über den Europäischen Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden sowie die erbitterten Kampagnen in deren Vorfeld werden auch damit erklärt, dass die Wahlbevölkerungen einen Konflikt zwischen nationaler Sozialpolitik, einer weiteren Vertiefung der Europäischen Union und daraus möglicher Weise entstehenden negativen Wechselbeziehungen identifiziert haben.

Nach dem Scheitern des Europäischen Rats vom 16. und 17. Juni 2005, für den eine politische Einigung über die Finanzierung der Europäischen Union für die Jahre von 2007 bis 2013 geplant war, hatte die britische Ratspräsidentschaft den informellen Europäischen Rat im Herbst 2005, der normalerweise der Vorbereitung des die Präsidentschaft abschließenden Rates im Dezember dient, als Sondergipfel zur Debatte über die Zukunft des Europäischen Sozialmodells deklariert. Allerdings wurde in der Folge dieser Tagesordnungspunkt abgeschwächt und nun steht der informelle Europäische Rat unter dem Titel "Globalisierung".

Dennoch ist die Frage nach einem Europäischem Wirtschafts- und Sozialmodell unbedingt als Teil der zukünftigen europäischen Integrationsstrategie zu betrachten, die untrennbar mit der Frage nach der Finalität Europas verbunden ist. Verschärfend kommt hinzu, dass in einer Europäischen Union der 25 Mitgliedstaaten potenziell jedes Land Interesse daran haben kann, wesentliche Bestandteile seiner eigenen Wirtschafts- und Sozialordnung auf die Europäische Union als Ganzes zu übertragen. Analogien dazu lassen sich in der Integrationsgeschichte finden: So ist beispielsweise die Europäische Zentralbank ähnlich und nicht zufällig so organisiert wie es die Bundesbank ist.

Ob für den Mitgliedstaat, der sein nationales System auch auf die Unionsebene übertragen kann, greifbare bzw. geldwerte Vorteile entstehen, soll hier nicht weiter erörtert werden. Es ist aber zu vermuten, dass ein "Sieg" in einem derartigen Systemwettbewerb die materiellen wie politischen Transaktions- und Transformationskosten des Landes, das sein System annähernd verbindlich für alle anderen 24 Mitgliedstaaten machen kann, deutlich niedriger hält als die der Mitgliedstaaten, die ihre Systeme entsprechend anpassen müssen.

In diesem Papier soll der Begriff des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells erläutert, anhand der vier in der EU vorherrschenden Idealtypen veranschaulicht und schließlich auf seine praktische Operationalisierung hin untersucht werden.

Begriffsbestimmung

Der Begriff des "Europäischen Sozialmodells" ist französischen Ursprungs: Dem damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors wird die Einführung des Terminus zugeschrieben. Anfang der neunziger Jahre, in der Folge des Vertrags von Maastricht, wurde im Bewusstsein der sich vergrößernden Kluft zwischen der Wirtschafts- und Währungspolitik, die immer mehr auch auf europäischer Ebene organisiert wurde, und der Sozialpolitik, die weitgehend auf der nationalen Ebene verharrte, angedacht, ein sozialpolitisches Äquivalent zur Wirtschafts- und Währungsunion auf Unionsebene zu errichten. Delors' Strategie zielte auf einen europäischen Staatsbildungsprozess ab, in dem eben auch eine europäische Handlungsebene zur Regelung der sozialpolitischen Einbettung des Binnenmarktes entstehen sollte, da Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik durch eine starke Interdependenz miteinander verbunden sind.

Zunächst muss eine begriffliche Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und Sozialordnung und Wirtschafts- und Sozialmodell vorgenommen werden: Unter der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland wird "die Gesamtheit der Institutionen und Normen zur Regelung der sozialen Stellung von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft – soweit sie wirtschaftlich bedingt ist  – sowie zur Regelung der wirtschaftlich begründeten sozialen Beziehungen zwischen Gesellschaftsmitgliedern beiträgt" verstanden.1 Der Begriff "Ordnung" bezieht sich entsprechend auf die Umstände und Determinanten, die in der Realität vorliegen.

Ein Modell muss jedoch als Zielbestimmung bzw. als Idealtyp verstanden werden, das sich auf die Herstellung einer "einheitlichen sozialen Ordnung" und "eine weitgehende Harmonisierung der national geprägten Sozialordnungen"2 bezieht. Sobald die Zielvorgabe eines Modells realisiert ist, wird das Modell zur Ordnung des geltenden Handlungsrahmens.

Wirtschaftsmodell und Sozialmodell werden gemeinsam betrachtet, da das Wirtschafts- und das Sozialsystem ineinander verwoben sind, sich gegenseitig bedingen und damit interdependent sind: "Soziale Gerechtigkeit und sozialer Ausgleich können der ökonomischen Entwicklung zugute kommen und sind kein bloßer Kostenfaktor. Andererseits kommt die ökonomische Entwicklung auch dem sozialen Ausgleich zugute."3

Die Verwendung des Begriffs des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells hängt einerseits vom individuellen Hintergrund seines Benutzers und andererseits von seinen politischen Zielvorstellungen gegenüber der europäischen Integration ab. Da nämlich kein gemeinschaftliches Wirtschafts- und Sozialmodell im Sinne eines Systems bzw. einer Ordnung besteht, wird das eigene nationale System fiktiv auf die Ebene der EU übertragen. Dies wird bewusst und kalkuliert genutzt, um den Begriff in der Debatte so zu verwenden, damit die eigenen nationalen Strukturen an Bedeutung und Modellhaftigkeit für die Europäische Union gewinnen.

Der Ursprung des Begriffs "Europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell" verdeutlicht dies exemplarisch, denn Delors strebte  – wie andere Akteure auch – die Übertragung der Wirtschafts- und Sozialordnung seines eigenen Landes auf die Union an. In dieser Tradition steht Frankreich weiterhin, denn auch Präsident Jacques Chirac fordert ein Europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell nach französischem Vorbild.

Die vier idealtypischen Wirtschafts- und Sozialmodelle in Europa

In Europa haben sich vier voneinander abtrennbare Wirtschafts- und Sozialmodelle entwickelt. Es handelt sich hierbei um

  • den liberalen,
  • den konservativen,
  • den sozialdemokratischen und
  • den rudimentären Typus des Wohlfahrtsstaates.

Der liberale Typ lehnt sich in großen Zügen der Wirtschafts- und Sozialordnung Großbritanniens an, der konservative bzw. kontinentaleuropäische an die Systeme Deutschlands, Frankreichs, Österreichs und der Niederlande. Der sozialdemokratische Typus liegt in Schweden, Dänemark und Finnland vor und der rudimentäre lässt sich in Italien, Spanien, Griechenland und Portugal verorten.

Das sozialdemokratische, nordische Modell ist durch eine schwache Arbeitsmarktregulierung charakterisiert, die durch aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeglichen wird. Dagegen zeichnet sich der liberale, angloamerikanische Typus durch einen schwachen Organisationsgrad und eine schwache Arbeitsmarktregulierung aus, stellt aber großzügige soziale Hilfe für echte Notfälle bereit. Der konservative Typus gründet sich auf die Sozialversicherung für Erwerbstätige und die Altersvorsorge und das mediterrane oder rudimentäre Modell konzentriert seine öffentlichen Ausgaben schließlich weit gehend auf die Rente.

Inzwischen sind diese vier Grundtypen allerdings auch nur noch als Idealtypen zu sehen, da dieses traditionelle Schema sich langsam auflöst, neue Mischformen entstehen und Nationalstaaten durch Reformprozesse den Weg von einem Grundtyp zu einem anderen einschlagen können: So werden mittlerweile Portugal eher dem angloamerikanischen und Österreich dem nordischen, sozialdemokratischen Typus zugeordnet.

Auch hat sich das Spektrum an Sozialstaatssystemen in Europa durch die Erweiterungsrunden der Europäischen Union erheblich diversifiziert. Dies wurde besonders deutlich durch die letzte Beitrittsrunde im Jahr 2004, bei der acht mittel- und osteuropäische Staaten sowie Zypern und Malta in die EU aufgenommen wurden: Die Sozialsysteme dieser Mitgliedstaaten entsprechen keinem der vier ursprünglichen Typen eindeutig. Die unterschiedlichen Ausprägungen des europäischen Sozialstaats sind als spezifischer Ausdruck der nationalen Strukturen zu verstehen und machen somit die vorherrschende Diversität der EU-Mitgliedstaaten untereinander deutlich.

Operationalisierung des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells

Gegenwärtig existiert keine einheitliche integrierte Wirtschafts- und Sozialordnung entsprechend der nationalen Definition auf der Ebene der EU. Der Verwendung des Begriffs liegen mindestens drei unterschiedliche Interpretationsstränge zu Grunde. Das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell kann

  • als normative Zielbestimmung,
  • als Querschnitt oder
  • als kleinster gemeinsamer Nenner gemeinsamer Merkmale

verstanden werden.

National-normative Zielbestimmung

In der aktuellen europapolitischen Debatte wird das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell von einem großen Teil der Akteure als normative Zielbestimmung für einen bestimmten Idealtyp eines Wirtschafts- und Sozialmodells verwendet: Es herrscht ein regelrechter Theoriewettbewerb zwischen den Vertretern der vier unterschiedlichen Wohlfahrtstaatstypen, die in der EU vorherrschen.

Nationale Vertreter verteidigen und propagieren das System des eigenen EU-Mitgliedstaats als für die Europäische Union geeignet und zukunftstauglich. Repräsentanten stark ausgebauter Sozialsysteme betonen die Notwendigkeit der Existenz eines für alle Mitgliedstaaten verbindlichen europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells und fordern seinen expliziten Aufbau auf europäischer Ebene. Im Falle Großbritanniens, dem aufgrund der britischen Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2005 besondere Aufmerksamkeit zukommt, wird sein relativ schwach ausgebautes Sozialsystem als Modell angeführt, da es in der aktuellen wirtschaftlichen Lage der Europäischen Union am besten dazu geeignet sei, Wirtschaftswachstum zu generieren und Arbeitsplätze zu schaffen.

Gleichzeitig besteht aber auch eine innenpolitische Rückkopplung insofern, als im Wettbewerb um die Deutungshoheit des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells nationale Interessen – in diesem Fall die nationale Wirtschafts- und Sozialordnung – aggressiv nach außen vertreten werden. Spätestens seit der Implementierung der Lissabon-Strategie hat dieser Wettbewerb eine klare europäische Dimension erhalten, da nun auch die Öffentlichkeit über eine bessere Vergleichbarkeit der Effizienz und damit auch des Erfolgs bzw. Misserfolgs des eigenen Systems gegenüber denen von Konkurrenten in der Europäischen Union verfügt.

Die Vermittlung und Vertretung des eigenen Modells über das Konstrukt des Europäischen Wirtschafts- und Sozialmodells wird bewusst strategisch genutzt, um sowohl den politischen Einfluss des eigenen Staates auf europäischer Ebene zu stärken, als auch innenpolitisch zu vermitteln, dass es erfolgreich gelingt, nationale Ideen und Projekte auf die Europäische Union zu übertragen. Ein anschauliches Beispiel dafür bietet die Debatte in Frankreich: Der größte Einwand der Gegner des Europäischen Verfassungsvertrags im Verlauf der Kampagnen für das Referendum im Mai 2005 war ein angeblicher wirtschaftspolitischer Neoliberalismus in der Verfassung. Nach dem Scheitern dieses wichtigen europapolitischen Projekts und der damit verbundenen gleichzeitigen Ablehnung des Politikstils von Präsident Jacques Chirac durch die Wähler, versucht dieser nun durch die Debatte über das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell wieder Akzeptanz und Zustimmung zu gewinnen.

Querschnitt gemeinsamer Merkmale

Versteht man das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell als Querschnitt gemeinsamer Merkmale, scheint ein bestimmtes europäisches sozialpolitisches Muster zu existieren: Den Schlussfolgerungen des Europäischen Rats von Barcelona 2002 zu Folge stützt sich das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell auf "gute Wirtschaftsleistungen, ein hohes Sozialschutzniveau, einen hohen Bildungs- und Ausbildungsstand und sozialen Dialog".  In der Praxis manifestiert sich das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell häufig in Abgrenzung zum angloamerikanischen System. Die Konzeptionen beider Modelle unterscheiden sich deutlich: Während das angloamerikanische Sozialsystem durch ein niedriges Interventionsniveau des Staates in Sozialwesen und Wirtschaft charakterisiert ist, sind die europäischen Sozialsysteme relativ stark reglementiert. Signifikante Unterschiede finden sich zum Beispiel in der Arbeitslosenversicherung, der Armutsvermeidung, der Krankenversicherung, der Möglichkeit einer Berufsunfähigkeitspension, der Langzeitpflege, der kollektiven Regelung des Arbeitsverhältnisses und in der Familienpolitik.

Bestimmte Grundprinzipien finden sich in allen nationalen Sozialsystemen der EU wieder, je nach Präferenz, in mehr oder weniger starker Ausprägung. In der Praxis ergeben sich so gemeinsame "europäische" Merkmale: Zu diesen zählen neben einem generell hohen Niveau materiellen Wohlstands ein relativ hohes Niveau allgemeiner sozialer Absicherung und einer ausgeprägten Interessenorganisation sowie eine ausgewogene Lohn- und Einkommensverteilung.

Kleinster gemeinsamer Nenner

Ein dritter Interpretationsansatz versteht das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners. Dieser bezieht sich auf Merkmale, die alle nationalen Systeme der EU-Mitgliedstaaten miteinander gemein haben. In Anbetracht des Globalisierungsdrucks, der auf allen Sozialsystemen Europas gleichermaßen lastet und Reformen unausweichlich macht, kann auch die Minimierung der europäischen Wohlfahrtsregime auf diese kleine Schnittmenge als Zielbestimmung gesehen werden. Konkret umfasst diese eine öffentliche Grundversorgung bei der Rente, der Krankenversicherung und der Arbeitslosenhilfe. Diese Sichtweise wird in der Debatte von der britischen Ratspräsidentschaft vertreten, nach deren Auffassung eine moderne Sozial- und Wirtschaftsordnung nicht zu mehr Regulierung und kurzfristiger Sicherung von Arbeitsplätzen führen, sondern eher eine aktive Arbeitsmarktpolitik und eine Förderung mittelständischer Unternehmen ermöglichen soll. Implizit wären die anderen Mitgliedstaaten aus diesem Grund dazu aufgerufen, ihre Sozialsysteme entsprechend zu reformieren, d.h. abzubauen, um einen kleinsten gemeinsamen Nenner für das Europäische Wirtschafts- und Sozialmodell festzuschreiben.

Anmerkungen

  1. Lampert, Heinz/ Bossert, Albrecht, 2004: Die Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union. München, S. 69.
  2. Kowalsky, Wolfgang, 1999: Europäische Sozialpolitik: Ausgangsbedingungen, Antriebskräfte und Entwicklungspotentiale. Opladen, S. 337.
  3. Witte, Lothar, Dezember 2004: Europäisches Sozialmodell und Sozialer Zusammenhalt: Welche Rolle spielt die EU? Friedrich-Ebert Stiftung, Bonn, S. 1.

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