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Operative Feldschlacht

Das Politikmanagement der SPD

Sebastian Fischer ist Verfasser des Bandes: Gerhard Schröder und die SPD, Band 17 der Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, München 2005, ISBN 3-933456-35-5.

27.07.2005 · Position von Sebastian Fischer



Der gemeinsame Auftritt vor der Bundespressekonferenz lag eineinhalb Jahre zurück. Am 6. Februar 2004 hatten Franz Müntefering und Gerhard Schröder Gravierendes zu verkünden: Der Bundeskanzler gab den SPD-Vorsitz an den einflussreichen Generalsekretär ab, der schon auf dem Bochumer Parteitag im November 2003 mit abgewandelten Wehner-Zitaten („Fraktion gut, Partei auch“) auf seine bestimmende Rolle in der Partei aufmerksam gemacht hatte.

Am 5. Juli 2005 betreten Schröder und Müntefering wieder gemeinsam das Gebäude der Bundespressekonferenz am Berliner Schiffbauerdamm und legen vis-á-vis des Reichstags das SPD-Wahlprogramm – sie nennen es „Manifest“ –  für die voraussichtlichen Neuwahlen am 18. September diesen Jahres vor: Bürgerversicherung, Mindestlohn, Steueraufschlag für Reiche und Elterngeld werden darin angekündigt. Außerdem sollen die vorhandenen Arbeitnehmerrechte geschützt und verteidigt sowie die Agenda 2010 nachgebessert werden. Franz Müntefering nennt das: „Sozial und demokratisch, also sozialdemokratisch“. Gerhard Schröder sitzt rechts daneben, lächelt und stimmt zu.

Zwei Pressekonferenzen, zwei Mal der Einsatz des operativen politischen Managements durch den Bundeskanzler. Im vergangenen Jahr war die SPD in der Sonntagsfrage abgerutscht auf 24 Prozent, nur noch 14 Prozent der Befragten waren mit der Arbeit der Regierung zufrieden und 80 Prozent stimmten der Aussage zu, die Regierung kümmere sich zu wenig um die Interessen der kleinen Leute. Auf dem linken Flügel der SPD rumorte es, der Niedersachse Wolfgang Jüttner etwa forderte die Umbildung des Kabinetts. Schröder reagierte auf all die Anwürfe mit einer operativen, personalpolitischen Entscheidung. Müntefering kam gut an als Vorsitzender, die Partei fühlte sich wieder ernst genommen. Der neue Vorsitzende verkörperte das, was Schröder nie konnte: Den sozialdemokratischen Obergenossen. Es war seine Paraderolle – nur Papst zu sein würde ihm mehr geben, witzelte Müntefering.

In der Mitgliederzeitung Vorwärts kündigte der neue Vorsitzende an, die Partei werde „an Gewicht gewinnen, weil ich sie früh und intensiv in die Debatte einbeziehen will“. In Zukunft dürfe die Partei nicht immer nur das Regierungshandeln erklären, sondern sie müsse „rechtzeitig und offensiv und aus eigener Überzeugung die Debatte führen“.

Was aussieht wie der Aufruf zu mehr sozialdemokratischer Basisdemokratie ist die Etablierung eines sozialdemokratischen Zentralismus à la Müntefering: „Debatte führen“ bedeutet nicht die Herrschaft der Ortsvereine, sondern straffe Diskussionsleitung durch die Parteiführung bei Integration der maßgeblichen Parteischwergewichte. Einflussreiche Talente kamen unter Müntefering ebenfalls zu ihrem Recht. Andrea Nahles zum Beispiel durfte das SPD-Konzept zur Bürgerversicherung erarbeiten. Im Sinne seines Mottos „Organisation ist alles“ fand Müntefering für jeden eine Aufgabe im sozialdemokratischen Parteikosmos. Das war nicht mehr die Schröder-SPD, die solche Entscheidungen auslagerte, an mutmaßliche Experten oder Räte abtrat. Schröder wollte das Land wie ein Wirtschaftsunternehmen führen und sah die Partei als erste Angestellte der Republik. Müntefering sprach von „gleicher Augenhöhe“ und reetablierte das Willy-Brandt-Haus – nicht die Partei in ihrer Breite – als eigenständigen Apparat neben dem Kanzleramt. 

An der Diskussion um ein neues Parteiprogramm lässt sich das Prinzip der Müntefering-SPD besonders gut illustrieren. Unter der Protektion des damaligen Partei-Vize und Verteidigungsministers Rudolf Scharping hatten die Netzwerker, ein Zusammenschluss jüngerer, sich undogmatisch gebender Bundestagsabgeordneter, sich mit ihrer Forderung nach „Überprüfung“ des Berliner Grundsatzprogramms durchsetzen können. Scharping führte ab Dezember 1999 die Geschäfte einer Programmkommission. Nach seiner vom Kanzler erzwungenen Demission als Minister im Sommer 2002 übernahm wenige Monate später der junge Generalsekretär Olaf Scholz – ohne Beschluss eines Parteitags – die Programmdebatte und installierte eine „Redaktionsgruppe“. Unter Scholz gewannen die Netzwerker an Einfluss, präsentierten Ende 2003 sogar einen eigenen Programmentwurf: „Die neue SPD: Menschen stärken, Wege öffnen.“ Schelmisch freute sich die Truppe um den neu hinzugestoßenen Niedersachsen Sigmar Gabriel, dass sie die Parteilinke, mithin die etablierten Programmatiker, übertölpelt hatten, die erst einen Tag später einen eigenen Entwurf vorlegten.

Der Parteivorsitzende Schröder ließ dies alles geschehen. Seit seinem Abenteuer mit dem Schröder-Blair-Papier zu Beginn seiner Regierungszeit umging er die Programmatik, das normative Politikmanagement, wo er nur konnte. Und lieferte damit keine Begründungszusammenhänge für seine Politik. Im Gegenteil: Die sozialdemokratische Regierungsarbeit hat der großen sozialdemokratischen Erzählung seit 1998 immer nur Wunden gerissen, ihr aber nie neue Episoden hinzugefügt. In den vergangenen sieben Jahren haben rund 150.000 Mitglieder die SPD verlassen – keiner hat es sich leicht gemacht, die meisten gingen unter Schmerzen.

Müntefering wusste das wohl. Der Agenda-Prozess sei eingeleitet worden, „ohne dass wir die Überschriften und Zielsetzungen mit beschrieben haben“, erklärte er noch als Generalsekretär: „Wir mussten viele, viele Dinge gleichzeitig machen und dann begleitend oder im Nachhinein erklären, wohin die Reise eigentlich gehen soll.“ Als frisch gekürter Parteichef erschien ihm dann die, am Ende unter Olaf Scholz nur noch dahinplätschernde Programmdebatte als Instrument zur Integration der Partei. Müntefering ließ die Partei straff organisiert diskutieren. Die Landesverbände wurden bereist. Die Ortsvereine hatten wieder die Hoheit über ihre Partei. Mehr als zu Zeiten der Netzwerker-Programmentwürfe hatten sie allerdings jetzt auch nicht zu sagen, ihre Hoheit war eben nur eine gefühlte. Aber sie spürten, dass die Zentrale in Berlin sich nun wieder um ihre Filialen kümmerte. Die rhetorischen Schlachtrösser der Sozialdemokratie traten in den Landesverbänden und Bezirken auf. In München erheiterte sich Ex-Parteichef Hans-Jochen Vogel über die Netzwerker, deren Programm nun in der Schublade bleibe. Er verwehrte ihnen gar den eigenen Namen, sprach immer nur von den „Republikanern“, weil sie ihre Ideen in der Zeitschrift „Berliner Republik“ publizieren. Die alte SPD schien zu triumphieren im Jahr 2004. Die selbsterklärte neue zog sich enttäuscht zurück, in informellen Kreisen klagten die Netzwerker, Müntefering habe sie kaltgestellt, habe ihnen „den Stecker rausgezogen“.

Doch was der Partei ein Gefühl des „Wir sind wieder wer“ gab, kam beim Wahlvolk noch lange nicht an. Und weil der Wähler die Müntefering-SPD nicht wieder auf den Schild hob, schlug das Ganze dann doch wieder auf die Partei durch. In den letzten Monaten hat Franz Müntefering seinen Nimbus als Heilsbringer verloren.

Der SPD verhagelte es unter seiner Ägide fast alle Landtagswahlen. Nur Matthias Platzeck konnte in Brandenburg mit einem couragiert-engagierten Wahlkampf, seiner offensiven Verteidigung der Agenda 2010, das Amt des Ministerpräsidenten halten. Mit Nordrhein-Westfalen aber brach am 22. Mai 2005 der letzte Stützpfeiler des rot-grünen Gebälks weg. Und um 18:23 Uhr am Abend dieses historischen Tages spielte Schröder das Spiel, das er in all den Jahren – als politischer Aufsteiger, als Oppositionspolitiker in Bundestag und Landtag, als Ministerpräsident und Bundeskanzler – am besten konnte, jenes Spiel, das sich wie ein roter Faden durch seine politische Karriere zieht: Alles oder Nichts, nach den Spielregeln des operativen Managements. Über Müntefering ließ er dem Fernsehvolk mitteilen, er wolle den Weg für Neuwahlen noch in diesem Jahr freimachen.

Durch den rasch näher rückenden Wahltermin, waren die Konkurrenten gezwungen, sich festzulegen: Angela Merkel hat ihre schnelle Nominierung zur Kanzlerkandidatin dem Politikmanagement Gerhard Schröders zu verdanken. Und die neue Linkspartei kann sich über die Eile des Kanzler glücklich schätzen. Wäre sie doch bis zum regulären Wahltermin sicherlich in zermürbende organisations-, personal- und sachpolitische Rangeleien verstrickt gewesen. So kann Oskar Lafontaine noch ein letztes Mal groß aufspielen. Für eine Legislatur im Bundestag sollte es reichen. In wie viele Gruppen die Linkspartei sich danach aufspaltet, wird zu zählen sein.

Gut möglich ist aber auch eine andere Variante: Die Linkspartei etabliert sich langfristig neben der Sozialdemokratie im Parteiensystem und bindet durch ihr populistisches Auftreten ehemalige Nichtwähler wieder ein. Auch das muss nicht zum Schaden der SPD sein, denn deren abtrünniges Potenzial kommt dann nicht mehr in dem Maße der CDU zugute, wie dies in den letzten Monaten der Fall war. Jürgen Rüttgers hat sich ja schon zum Arbeiterführer von Nordrhein-Westfalen ausgerufen. Und die Linkspartei ist auf lange Sicht ein möglicher Koalitionspartner für die SPD. So hat sich auch die sozialdemokratische Abspaltung vom Ende der 70er Jahre entwickelt: die Grünen.

Es hängt sehr viel von der SPD selbst ab. Sie muss im Politikmanagement aktiv werden. Nur reagieren auf die Attacken von links (Lafontaine/Gysi) und marktliberal (Merkel) muss sie nicht. Das nun vorgestellte Wahlmanifest aber klingt grundsätzlicher als es ist. Es beherbergt keine sozialdemokratische Erzählung, auch nicht zwischen den Zeilen. Es ist eine Auflistung dessen, was noch immer als klassisch sozialdemokratische Politik gilt, so eine Art kleinster gemeinsamer Nenner: Verteidigung der Arbeitnehmerrechte, soziale Gerechtigkeit, Bildung für alle. Damit kann jeder in der Partei leben. So gab es denn auch für SPD-Verhältnisse erstaunlich wenig Widerspruch. Verloren gegangene Wähler scheint das aber nicht zurückzuholen. Die SPD dümpelt seit Wochen bei unter 30 Prozent. Die einzig mögliche Regierungsbeteiligung kann wohl nur noch die als Juniorpartner in einer Großen Koalition sein. 

Einen Schwenk zurück zur Sozialdemokratie der frühen 90er Jahre würde der SPD ihre verlorenen Wähler nicht mehr zurückbringen. Die Partei hat sich zu sehr verändert. In den letzten Jahren sind bei all dem Nettoverlust an Mitgliedern auch Tausende eingetreten, die sich eben gerade von einer mittig ausgerichteten Sozialdemokratie etwas versprechen. Außerdem: Wer so geblutet hat wie die SPD, wer für die schmerzlichen Reformen all die Varianten des Politikmanagements aufgeboten hat, kann der noch einmal zurück? Will jemand, der sich unter Schmerzen und vor allem unter Verlusten verändert hat, zurück zum Anfang? Politik ist doch eher ein stetiger Prozess; das, was man in der Computersprache „Wiederherstellungspunkt“ nennt und mit einem Mausclick erreicht, scheint hier unmöglich.

Vielleicht ist das die Chance der SPD. Denn die Prozesshaftigkeit mal unterstellt, muss sie sich weiterentwickeln. Zwangsläufig. Die Jüngeren in der Partei haben das erkannt, auch die Netzwerker zeigen wieder Mut. Alle wollen sie jetzt kämpfen und nachher beim normativen und strategischen Neuaufbau dabei sein.

Und was wird aus Gerhard Schröder? In die Ecke gedrängt und mit dem Rücken zur Wand war er noch immer am besten. Und wenn es jetzt nur darum geht, sich selbst in offener Feldschlacht einen großen Abgang zu organisieren. Die liegen gelassenen normativen Aufgaben muss dann eine weiterhin von Müntefering geführte SPD im Übergang zu einer neuen Generation anpacken.

Diese Generation kann sich an den neuen Aufgaben profilieren. Vielleicht auch in einer Großen Koalition. Denn ein modernes Leitbild, eine Idee hat auch die Union nicht. Normativ ist sie ziemlich blank. Wenn es der SPD gelingt, die möglichen Erfolge der Arbeit einer Großen Koalition durch Integration ins sozialdemokratische Weltbild auf ihr Konto zu buchen, dann kann sie nur gestärkt aus ihrer Schwächephase nach Schröder hervorgehen.


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