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Bolkestein-Richtlinie: ein Anschlag auf das europäische Sozialmodell?

Die geplante Richtlinie ist besser als ihr Ruf

21.04.2005 · Position von Milosz Matuschek



Chirac und Schröder haben es wieder mal geschafft. Der Richtlinienvorschlag der Kommission vom 13. Januar 2004 zur Harmonisierung des Dienstleistungssektors, der es erlaubt, Dienstleistungen im gesamten europäischen Markt nach dem Recht des Herkunftslandes anzubieten, ist nach dem Drängen Frankreichs und Deutschlands auf dem Frühjahrsgipfel vom 22. und 23. März zur grundlegenden Überarbeitung an die Kommission zurückgeleitet worden. Die im Rahmen des Lissabon-Prozesses zur Harmonisierung des Binnenmarktes erlassene Richtlinie soll Barrieren in den Mitgliedstaaten abbauen, die den freien Dienstleistungsverkehr behindern, und dadurch Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen fördern. Dies ist ein zentrales Anliegen der Kommission, da Dienstleistungen mit 70% einen zentralen Bestandteil der EU-Wertschöpfung einnehmen, aber im Gegensatz zur Warenverkehrsfreiheit bei Grenzüberschreitung immer noch zahlreichen Hindernissen ausgesetzt sind. Was in der Praxis bereits für Äpfel und Autos gilt, soll daher auch für selbständige Arbeit gelten, die für einen begrenzten Zeitraum erbracht wird. Damit folgt die Richtlinie der Logik der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und des Maastrichter Vertrages, die die Errichtung eines europäischen Binnenmarktes zum Ziel haben, in welchem Waren, Dienstleistungen und Personen frei zirkulieren können.

Politik, Arbeitnehmerverbände sowie Handwerkskammern und Branchenvertretungen sind jedoch der Meinung, diese Richtlinie setze einen Unterbietungswettlauf bei hoch regulierten Ländern wie Deutschland in Gang und habe Lohn- und Sozialdumping zur Folge. Der ehemalige Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein, aus dessen Feder der Entwurf stammt, hat in Artikel 16 der Richtlinie das so genannte „Herkunftslandprinzip“ verankert, das im Zentrum der Kritik steht. Seitdem sprechen französische Gewerkschaften von einer „Richtlinie Frankenstein“, während die Presse eine „Bolkestein-Bombe“ entdeckt haben will.

Eine „Bombe“ mit langer Zündschnur, denn sie blieb immerhin über ein Jahr unbemerkt. Kanzler Schröder und Parteichef Müntefering erklärten erst Anfang Februar 2005, sie wollten die Richtlinie ändern. Wenig später erklärte der Kanzler das Aushandeln von Ausnahmen für Deutschland zur „Chefsache“. Auch der französische Staatspräsident Chirac hatte am 2. Februar 2005 auf einer Ministerratssitzung klar gemacht, er wolle diese Richtlinie „platt machen“.

Nun sollte Kommissionspräsident José Manuel Barroso den politischen Sprengsatz entschärfen. Der Portugiese distanzierte sich am 3. Februar 2005 öffentlich von dem Entwurf, mit der Erklärung, diese sei unter der Prodi-Kommission entstanden und erwog bereits die Zurückziehung der Richtlinie. Soweit kommt es vorerst jedoch nicht: Der aktuelle Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy will den Entwurf überarbeiten, sobald die vom Europäischen Parlament eingesetzte Arbeitsgruppe Stellung genommen hat, was im April 2005 erwartet wird. Die Richtung dafür gaben die Staats- und Regierungschefs auf ihrem Frühjahrsgipfel vor, selbst wenn deren Stellungnahme für die Kommission offiziell nicht bindend ist: nämlich dafür zu sorgen, dass die ökonomisch so notwendige Öffnung der Dienstleistungsmärkte mit dem sozialen Modell Europas kompatibel ist.

Gefährlicher sozialer Zündstoff oder falscher Alarm?

Kern der Debatte ist die Angst vor „Lohn- und Sozialdumping“ aus den neuen EU-Staaten, die durch die Unterschreitung der Sozialstandards hoch regulierter Länder Wohlstand und Arbeitsplätze gefährden könnten. Damit scheint ein Wettbewerb der Sozialsysteme in Gang gesetzt, der wie in einer Abwärtsspirale die Durchsetzung des niedrigsten Standards zur Folge haben soll. Die EU offenbare nun ihr neoliberales Gesicht und zeige, dass Waren-, Dienstleistungs-, und Kapitalverkehrsfreiheit sowie die Freizügigkeit der Arbeitnehmer auch ihre Schattenseiten hat.

Politisch glaubwürdiger erschiene die Kritik jedoch, wenn die Instrumentalisierung der Richtlinie in Deutschland und Frankreich nicht so offensichtlich wäre: dem Widerstand des deutschen Regierungschefs und des französischen Staatspräsidenten haftet an, mit Europapolitik innenpolitisch verwertbare Stimmung machen zu wollen. Chirac möchte nicht riskieren, dass der Dienstleistungsentwurf zum „Totengräber“ des Referendums zur Europäischen Verfassung wird und Schröder steht unter dem Druck steigernder Arbeitslosenzahlen. Die Harmonisierung des Dienstleistungssektors und die zahlreichen Gründe für Lohn- oder Sozialdumping sind komplexe Themen, welchen mit einer groben Vereinfachung in der politischen Debatte und den Medien nicht ausreichend Rechnung getragen wird. Oft wird nicht mehr differenziert, welche Probleme wodurch ausgelöst werden und plakative Worthülsen über sachliche Begründung gestellt. Vor allem wird dadurch das im Mai 2004 noch so gefeierte Projekt der Osterweiterung auf diplomatisch ungeschickte Weise durch den Hintereingang diskreditiert. Bezüglich der Osterweiterung gab es zwar schon vor der Bolkestein-Richtlinie Bedenken, trotzdem entladen sich diese nun vornehmlich an ihr. Der Richtlinienentwurf ist daher in einen breiteren Kontext  zu stellen.

Die zwei gängigsten Befürchtungen lauten:

  • Firmen verlassen Deutschland und lassen sich im osteuropäischen Ausland nieder, wo Löhne, Sozialabgaben und Steuern niedriger sind (z.B. VW und Skoda in der Slowakei, Opel in Polen).
  • Umgekehrt kommen billige Arbeitskräfte in Hochlohnländer und arbeiten dort für einen Bruchteil des Lohns („Lohndumping“).

Dadurch entsteht der Eindruck, dass Hochlohnländer von zwei Seiten „ausbluten“: die wenigen Firmen, die noch bleiben, werden von Billiglohnarbeitern aus dem Ausland „durchsetzt“, die wiederum einheimische Arbeitnehmer verdrängen oder zu Lohneinbußen zwingen.

Die Auswanderung von Firmen ins Ausland: Ein Problem der Osterweiterung?

Das erste Phänomen lässt sich nicht bestreiten, wenn auch die Zahl der Firmen, die ihre Produktion ins Ausland verlagert haben, kleiner ist als in der Öffentlichkeit suggeriert wird. Eine Verbindung zwischen der Osterweiterung und einem Anstieg des Outsourcing besteht, ist jedoch nicht direkt von Gemeinschaftsrecht begünstigt, sondern geht von der Steuer- und Lohnpolitik der Mitgliedsstaaten aus, die keinerlei europäischer Harmonisierung unterworfen ist. Ebenso fehlt eine vollständige Harmonisierung der Gründung von Kapital- und Personengesellschaften auf europäischer Ebene. Die EG-Verordnung Nr. 2157/2001 über die Gründung einer Europäischen Aktiengesellschaft („Societas Europaea“), die am 8. Oktober 2004 in Kraft getreten ist, zeigt, dass Kernbereiche des Gesellschaftsrechts, wie die Gründung und Auflösung von Gesellschaften, sowie die Bestimmung des Sitzes der Gesellschaft immer noch von nationalem Recht geregelt werden. Hier bestünde Handlungsbedarf: Outsourcing entsteht nicht unmittelbar durch die europäische Integration, sondern gerade dort, wo Mangel an ihr herrscht. Denn nur dort, wo es an Harmonisierung fehlt, können Unterschiede in den Mitgliedsstaaten ausgenutzt werden. Das Phänomen des Outsourcing ist daher kein spezifisch europäisches Problem. Die Gründung von Gesellschaften, Tochtergesellschaften und Filialen wird auch im nichteuropäischen Ausland praktiziert (Mexiko, China) und bestand schon vor der Osterweiterung der EU in den MOE-Staaten.

Die zweite Befürchtung, osteuropäische Arbeitnehmer betrieben Lohn- und Sozialdumping, verlangt nach einer differenzierten Untersuchung, wobei vor allem auf die Situation in Deutschland eingegangen werden soll. Zunächst ist eine Differenzierung zwischen Arbeitnehmern, entsandten Arbeitnehmern und Dienstleistungserbringern nötig.

Lohndumping bei entsandten Arbeitnehmern ist hausgemacht

Was die Gruppe der Arbeitnehmer aus den neuen Mitgliedsstaaten betrifft, ist daran zu erinnern, dass ihre Freizügigkeit bis zu sieben Jahre eingeschränkt werden darf. Alle alten EU-Staaten können sich eine solche Beschränkung durch Artikel 24 des Beitrittsvertrages, der am 16. April 2003 in Athen mit den damaligen Beitrittskandidaten geschlossen worden ist, bis zum Jahr 2011 vorbehalten. Wenn also trotzdem Bauarbeiter mit Touristenvisum aus den MOE-Staaten in den alten Mitgliedsstaaten arbeiten, so ist dies Schwarzarbeit und als solche auf nationaler Ebene zu bekämpfen, aber weder von EU-Regelungen noch von der Osterweiterung begünstigt.

Trotzdem ist es im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit möglich, dass bestimmte Arbeiter aus den neuen europäischen Staaten Freizügigkeit genießen. Dies sind die so genannten „entsandten Arbeitnehmer“, die mit Vollendung der Werktätigkeit des Subunternehmers, für den sie temporär tätig sind, wieder in ihr Herkunftsland zurückkehren. Ein portugiesisches oder polnisches Bauunternehmen zum Beispiel kann in Deutschland per Werkvertrag seine Dienstleistung anbieten und sich dabei der Arbeitskräfte des Herkunftslandes bedienen. Von einer dauerhaften Niederlassung oder gar einer Form von Einwanderungspolitik durch die Hintertür der europäischen Grundfreiheiten kann aber nicht die Rede sein.

„Dürfen diese entsandten Arbeitnehmer den Lohnstandard in Hochlohnländern unterbieten?“ lautet eine gängige Frage. Prinzipiell nicht. Auf entsandte Arbeitnehmer ist nicht das Recht des Herkunftslandes anwendbar, sondern das des Ankunftslandes. Die im Rahmen der sogenannten Entsenderichtlinie (EG-Richtlinie Nr. 71 von 1996) geltenden Regelungen besagen, dass Regelungen über Minimallöhne, Urlaubs- und Arbeitszeiten, sowie Sicherheits- und Hygiene- und Antidiskriminierungsbestimmungen des Ankunftslandes anzuwenden sind, also deutsche Standards auf polnische oder portugiesische Arbeiter Anwendung finden und gerade nicht umgekehrt. Die Kontrolle der Subunternehmer obliegt den Ankunftsmitgliedstaaten, die bei Verstößen gegen die nationalen Minimalstandards und bei vorliegendem Sozial- und Lohndumping über die Möglichkeit verfügen, diese zur Einhaltung der Standards zu verpflichten und mit Strafen zu belegen. Solche Maßnahmen sind europarechtlich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (wozu der Arbeitnehmerschutz zählt) gerechtfertigt, die vom Prinzip des grundsätzlichen Verbots von Einschränkungen des Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs eine von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannte Ausnahme darstellen. Die Gefahr des Lohndumpings bei entsandten Arbeitnehmern zu verhindern und die Dienstleistungsfreiheit aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes zu beschränken ist damit nicht nur durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs anerkannt, sofern dies nicht willkürlich oder aus rein protektionistisch-wirtschaftlichen Gründen geschieht, sondern ist schlichtweg der Existenzgrund der Entsenderichtlinie.

Wie kommt es aber, dass seit Mai 2004 zum Beispiel allein 26.000 Beschäftigte in der deutschen Fleischwirtschaft ihre Arbeit an preiswertere Konkurrenz aus Osteuropa verloren haben ?

Die Anwendung der Vorschriften des Ankunftslandes setzt voraus, dass dieses über die einschlägigen Vorschriften verfügt. Da es in Deutschland bis auf tarifliche Mindestlöhne in der Baubranche keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt, können deutsche Auftraggeber mit billigeren osteuropäischen Anbietern Individualvereinbarungen bei der Entlohnung treffen, die unter dem Niveau liegen, welches in Deutschland üblicherweise bezahlt wird. Die Umsetzung der Entsenderichtlinie in das Entsendegesetz von 1996 ist in Deutschland daher nur in der Baubranche erfolgt. Eine Umgehung des Rechts des Ankunftsstaates bleibt jedoch dort möglich, wo dieses gar nicht existiert. Dass über Werkverträge polnische Arbeiter für Erntehilfe und Schlachtarbeiten theoretisch zu 3-5 Euro pro Stunde beschäftigt werden können, ist somit allein auf fehlende nationale Regelungen zurückzuführen und weder direkt noch indirekt eine Folge von EG-Recht. Das Problem des Lohndumpings bei entsandten Arbeitern ist hausgemacht und nicht die Folge eines europäischen Liberalisierungsstrebens. Mit der Dienstleistungsrichtlinie selbst hat diese Problematik nichts zu tun, da sie bisher noch gar nicht in Kraft ist. Trotzdem wird in der öffentlichen Berichterstattung bisweilen fälschlicherweise ein solcher Zusammenhang hergestellt. So veröffentlichte beispielsweise das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in der Ausgabe Nr. 8 diesen Jahres eine Umfrage, wonach es nach einer Dienstleistungsrichtlinie „bereits jetzt“ möglich sei, Dienstleistungen zum Recht des Herkunftslandes in anderen Staaten anzubieten.

Es mag nach einer Ironie des Schicksals klingen, dass gerade Deutschland, dessen Arbeitsrecht als überreguliert gilt, durch das Fehlen einer Regelung Nachteile durch die Osterweiterung zu erwarten hat. Andere europäische Hochlohnländer wie England und Frankreich, die den Mindestlohn bereits haben, beweisen, dass dieser weder zwangsläufig die Tarifautonomie untergraben muss, noch Arbeitsplätze vernichtet. In England wurden seit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns sogar noch Arbeitsplätze geschaffen. Deutschland ist für die Öffnung des Arbeitsmarktes im Jahre 2011 schlechter als andere gerüstet, da man sich weder die Existenz eines Niedriglohnsektors eingesteht noch diesen durch Mindestlöhne schützt. Die Bundesregierung hat das Problem inzwischen erkannt und führt eine Debatte über die Ausweitung des Entsendegesetzes auf andere Branchen. Die Terminologie ist jedoch irreführend: eine „Ausweitung“ macht faktisch nur Sinn, wenn dies mit der Schaffung von tariflich vereinbarten oder gesetzlichen Mindestlöhnen Hand in Hand geht.

Streng von entsandten Arbeitnehmern zu unterscheiden sind Dienstleistungserbringer

Der Binnenmarkt hat seit 1993 fast 1.000 Milliarden Euro Wohlstand und 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Dienstleistungssektor bietet dabei als bedeutendster Faktor der EU-Wertschöpfung mit nur 20% des grenzüberschreitenden Verkehrs die größten Wachstumsressourcen. Die Kommission kommt in einem internen Bericht zu dem Ergebnis, dass ein Jahrzehnt, nachdem der Binnenmarkt hätte vollendet werden sollen, noch immer eine breite Kluft zwischen der Vision einer wirtschaftlich integrierten Europäischen Union und der Wirklichkeit, die europäische Bürger und Dienstleistungserbringer erleben, besteht. Dies zu ändern, ist Ziel des Richtlinienentwurfs.

Ein Hemmschuh für den grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr sind die vielen administrativen Barrieren in den Ankunftsländern, die eine Ausübung einer grenzüberschreitenden Dienstleistung verzögern oder unattraktiv machen. Gerade die kleinen und mittleren Unternehmen schrecken allzu oft davor zurück, die Vorteile des Binnenmarktes in Anspruch zu nehmen, denn sie verfügen nicht über die notwendigen Mittel, um rechtliche Risiken einer grenzüberschreitenden Tätigkeit zu beurteilen und sich dagegen abzusichern bzw. die komplexen Verwaltungsverfahren zu bewältigen. Hier schafft die Bolkestein-Richtlinie Abhilfe: es soll einen freien Zugang zu Informationen geben, feste Ansprechpartner in den Mitgliedsstaaten sowie eine Abwicklung der Verwaltungsverfahren per E-Mail.

Der Begriff der „Dienstleistung“ in der Bolkestein-Richtlinie umfasst nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs alle selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, ohne dass die Dienstleistung von demjenigen bezahlt werden muss, dem sie zu Gute kommt, also die Tätigkeiten von Handwerkern, Architekten, Anwälten, Servicekräften usw. Für diese Personengruppe gilt das „Herkunftslandprinzip“, was bedeutet, dass ein Dienstleistungsanbieter aus Portugal, Polen, England usw. einen Teil seiner Rechtsordnung, die für seinen Beruf anwendbar ist, mitnimmt, also in das Ankunftsland „importiert“.

Für Berufe aus dem Gesundheitssektor, aus dem Bereich der Finanzdienstleistung sowie aus dem öffentlichen Sektor ist die Anwendung des Herkunftslandprinzips laut Richtlinienentwurf entweder ausgeschlossen oder es sind Ausnahmen im Einzelfall möglich.

Keine Veränderung des Status quo

Die Dienstleistungsrichtlinie geht im Kern nicht darüber hinaus, was geltende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs seit 1979 ist, nämlich das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Standards bei Waren und Dienstleistungen. Die Richtlinie soll die Harmonisierung beschleunigen, was durch die langjährige Untätigkeit der Mitgliedstaaten längst überfällig ist. Sie stellt daher keine Neuerung gegenüber der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dar, die durch jene lediglich „kodifiziert und automatisiert“ wird. Diese Harmonisierung ist deshalb notwendig, weil nationale Behörden zurückhaltend bei der Anwendung der Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind, wenn es darum geht, ihre administrativen Barrieren abzubauen. Die Richtlinie setzt daher lediglich die Rechtsprechung um, schafft aber inhaltlich keine nennenswerte Änderung des Status quo.

Warum die Dienstleistungsrichtlinie kein Dumping hervorruft

Sobald Dienstleistungserbringer Arbeitnehmer aus anderen Staaten beschäftigen, gelten für letztere die Mindeststandards des Ankunftslandes. Dumping bei Lohn- und Arbeitsschutzregelungen ist für Arbeitnehmer verboten, sofern das Ankunftsland Minimalregelungen vorsieht (siehe oben zur Entsenderichtlinie). Dumping ist auch für den Dienstleistungserbringer eher unwahrscheinlich, da es regelmäßig unwirtschaftlich sein dürfte, für sich selbst einen niedrigeren Lohn als den Mindestlohn seiner Arbeitnehmer zu vereinbaren.

Eine selbständige polnische Putzfrau beispielsweise, die in Deutschland ihre Dienstleistung anbietet, könnte dies zum Preis von 3-5 Euro in der Stunde machen. Gäbe es einen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland von z.B. 7,50 Euro, wie von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi vorgeschlagen, könnte sie selbst theoretisch zwar noch für 3-5 Euro pro Stunde arbeiten, müsste aber für ihre bei sich beschäftigten polnischen Arbeitnehmer/innen nach der Entsenderichtlinie den Mindestlohn von 7,50 Euro bezahlen, was sich betriebswirtschaftlich nicht lohnt. Es wäre auch deshalb unwahrscheinlich, da sie ihre Dienstleistung nur vor Ort in Deutschland anbieten kann und durch die höheren Lebenshaltungskosten bereits zu einem gewissen Mindestlohn verpflichtet wäre. Gäbe es einen gesetzlichen Mindestlohn, könnte dieselbe Putzfrau sogar geneigt sein, eher deutsche Arbeitskräfte aus dem Niedriglohnbereich bei sich zu beschäftigen, da diese ja nicht teurer wären als polnische, und dadurch in Deutschland Arbeitsplätze schaffen. Die Angst vor geringen Löhnen im Dienstleistungssektor, die von vornherein nur für den Dienstleistungserbringer möglich wären, scheint daher übertrieben.

Protektionismus ist eine größere Gefährdung für Arbeitsplätze

Hinter dem Schüren von Ängsten vor Sozial- und Lohndumping verbirgt sich die Angst vor Konkurrenz im Allgemeinen und daher ein nachvollziehbares Interesse von Branchenvertretungen und Handwerkskammern an protektionistischen Maßnahmen. Dass Umwelt-, Sicherheits-, Hygiene- und Arbeitszeitbestimmungen in Deutschland höher sind als in der Tschechischen Republik oder Ungarn, stimmt. Deutschland ist bekannt dafür, gerne noch etwas auf EG-Richtlinien draufzusatteln (siehe auch Diskriminierungsgesetz) und benutzt schärfere Regelungen dann gerne als Mittel, um sich gegen Anbieter anderer Länder abzuschirmen. Mit welcher Begründung aber sollte Deutschland seine höheren Bestimmungen auf Dienstleistungserbringer anderer Länder anwenden dürfen, wenn es auf europäischer Ebene bereits gemeinsame Minimalregelungen dazu gibt?

Die Richtlinie versucht, die Mitgliedstaaten selbst zu einer Harmonisierung zu bewegen. Wenn auf ausländische Anbieter niedrigere Standards angewandt werden müssen als auf inländische, so stellt sich die Frage für den nationalen Gesetzgeber, ob er den inländischen Anbietern die schärferen Regeln überhaupt noch länger zumuten und sie damit einem Wettbewerbsnachteil aussetzen will. Dieses europarechtlich zulässige Instrument der „Inländerdiskriminierung“ soll dazu führen, die Mitgliedstaaten zum Abbau überzogener Standards oder beruflicher Standesregeln anzuhalten. Die Debatte über die Abschaffung des Meisterbriefs im Handwerk beispielsweise hat ihren Ursprung in diesem Spannungsfeld.

Qualitätsbedenken der Branchenverbände scheinen ebenfalls überzogen. Ausländische Architekten, Anwälte und Handwerker, die in Deutschland ihre Dienstleistung anbieten, müssten bei der Ausübung ihrer Tätigkeit ein ähnliches Qualitätsniveau erreichen, um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein. Unterstellte man also pauschal, dass Dienstleistungserbringer aus den neuen Mitgliedsstaaten Arbeit von niedrigerer Qualität verrichteten, so wäre dies eher für diesen Personenkreis nachteilig, aber weniger für deutsche Anbieter. Das Argument der niedrigeren Qualität durch manche Branchenvertretungen zieht daher nicht: Ausländische Dienstleistungsanbieter werden eher deshalb gefürchtet, weil sie gleiche Qualität anbieten können.

Gerade der in Deutschland so stark reglementierte Dienstleistungssektor würde nach Berechnungen der Kommission von einer Liberalisierung profitieren: bis zu 600.000 Arbeitsplätze könnten durch die Dienstleistungsrichtlinie geschaffen werden, davon immerhin 75.000 in Deutschland. Der Verbraucher könnte zwischen mehreren Anbietern wählen und wäre durch niedrigere Preise eher geneigt, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, was zur Schaffung einer ganz neuen Dienstleistungskultur und damit zu der in Deutschland so dringend benötigten Ankurbelung der Binnennachfrage führen könnte.

Die Umsetzung der neuen Regelungen in der Praxis

Trotz der positiven Folgen der Harmonisierung des Dienstleistungssektors, ist die Bolkestein- Richtlinie nicht frei von inhaltlichen Schwächen.

Die erste Schwäche ist die mangelnde Flexibilität des Herkunftslandprinzips: Ein freier Dienstleistungsmarkt muss auch die Niederlassung von Dienstleistungsanbietern aus hoch regulierten Ländern in niedrig regulierte Länder fördern. Für einen deutschen Dienstleistungserbringer in der Tschechischen Republik gälten deutsche Standards, was für ihn einen Wettbewerbsnachteil gegenüber seinen tschechischen Konkurrenten bedeuten würde. Das Herkunftslandprinzip müsste durch ein „Best-Choice-Prinzip“ ersetzt werden, das es erlaubt, die für den Dienstleistungsanbieter vorteilhaftere Rechtsordnung anzuwenden indem sie ihm die Wahl zwischen seiner Rechtsordnung und der des Ankunftslandes lässt. Dadurch würden genauso administrative Barrieren abgebaut, aber gleichzeitig Ungleichbehandlungen von Dienstleistungsanbietern aus hochregulierten Ländern  aufgehoben.

Die zweite Schwäche ist die Durchführung der Kontrollen. Die Bolkestein-Richtlinie setzt auf eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Herkunftsland und Ankunftsland und überlässt z.B. die Kontrolle der Voraussetzungen für reglementierte Berufe vornehmlich dem Herkunftsland. Das ist problematisch, da das Herkunftsland aufgrund der räumlichen Distanz keine Zugriffsmöglichkeiten auf fremdes Territorium hat und somit allein über den Kontakt zu den Verwaltungseinrichtungen des Ankunftslandes einen Sachverhalt beurteilen müsste. Abgesehen von sprachlichen Barrieren ist es in der praktischen Umsetzung zudem unwahrscheinlich, dass das Herkunftsland mit der gleichen Intensität auf die Einhaltung seiner Standards für Dienstleistungen in anderen Ländern besteht, als wenn diese auf seinem Territorium erbracht werden würden.

Eine Nachbesserung erscheint auf diesen beiden Feldern als sinnvoll. Ausnahmen vom Herkunftslandprinzip wie sie im Einzelfall bereits für den Gesundheitssektor oder kommunale Dienstleistungen möglich sind, könnten zudem als generelle Ausnahme umformuliert werden. Der Geist der Dienstleistungsrichtlinie muss aber unangetastet bleiben, denn er gießt endlich in Gesetzesform, was seit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 als Ziel formuliert wurde: die Vollendung eines europäischen Binnenmarktes ohne willkürliche Barrieren.


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