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Bürgerinnen und Bürger versus Verfassung

Bildungspolitische Konsequenzen aus der Ablehnung des Verfassungsvertrags

13.06.2005 · Eva Feldmann, Barbara Tham, Alina Fuchs



Europa steckt in der Krise – aber in welcher?

Ein Teil der europäischen Bürgerinnen und Bürger haben gesprochen – und sie haben mehrheitlich Nein gesagt. Die Ergebnisse der Referenda zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden sind mehr als eindeutig: knapp 55% bzw. knapp 62% der Bevölkerung haben das europäische Verfassungswerk abgelehnt, das die EU den ambitionierten Zielen von demokratischer Entscheidungsfindung, Transparenz und institutioneller Handlungsfähigkeit näher bringen sollte. Mit der vorläufigen Aussetzung des Referendums in Großbritannien scheint die EU-Verfassung bis auf weiteres gescheitert zu sein.

Die Situationsanalyse ist vor diesem Hintergrund eindeutig: Europa steckt in der Krise. Es werden Optionen für einen 'Plan B' entworfen, den es eigentlich nicht geben sollte. Bemerkenswert in dieser post-plebiszitären Schockdiskussion ist allerdings, dass sie sich in der Analyse fast ausschließlich auf die institutionellen und politischen Folgen für die EU konzentriert. Ein weiteres Defizit, das sich in der Ablehnung der europäischen Verfassung offenbart, bleibt oft unbeachtet oder wird nur am Rande erwähnt: die offenkundig mangelnde bzw. inexistente Vermittlung europäischer Grundvorstellungen und Zielsetzungen an die Bevölkerung.

Was sagt die Ablehnung der Verfassung über die europäische Informations- und Kommunikationsleistung sowie über die nationale Bildungspolitik und –arbeit aus? Auch wenn der negative Ausgang der Referenda nicht mit einer grundlegenden Ablehnung der europäischen Einigungspolitik gleich zu setzen ist, so ist er doch Indikator für die zunehmende Distanz zwischen der Bevölkerung und der Europäischen Union. Die Vorteile des europäischen Einigungsprozesses sind den Bürgerinnen und Bürgern nicht einsichtig. Zudem fühlen sie sich aufgrund vieler nationaler politischer Entwicklungen verärgert oder bedroht. Dies übertragen sie auf die europäische Ebene. Dass die vorhandene Distanz und Kritik wenig mit den tatsächlichen Inhalten und Anliegen der EU-Verfassung zu tun hat, ist dabei nur zweitrangig. Vielen Nein-Sagern war die Verfassung als solche ohnehin kaum bekannt.

In der Konsequenz lässt sich die These dahingehend zuspitzen, dass Europa sicherlich in einer Krise steckt, diese Krise sich jedoch nicht ausschließlich in der institutionellen Stagnation manifestiert. Sie liegt auch in der beunruhigenden Distanz, die sich zwischen der EU und ihren Bürgern aufgebaut hat und in der offenkundigen Unfähigkeit, diese Distanz durch adäquate Vermittlung und Information zu überwinden.

Über ein Referendum zum Europa der Bürgerinnen und Bürger?

Betrachtet man das Instrument des Referendums zunächst isoliert, so erscheint es als die Verkörperung der eigentlichen basisdemokratischen Idee. Mittels der direkten Entscheidungskompetenz über grundlegende politische Fragen übt die Bevölkerung als Souverän ihre politische Gestaltungskraft auf das Gemeinwesen aus, in dem sie lebt. Bezogen auf Europa würde dies bedeuten, dass die Distanz zwischen Bürgerinnen und Bürgern und institutioneller Entscheidungsebene überwunden werden könnte, indem ersteren eine Mitentscheidungskompetenz über ihre europäische Zukunft in die Hände gelegt wird. Sieht man von den nationalen und machtpolitischen Beweggründen der jeweiligen Staats- und Regierungschefs ab, so lag hier die entscheidende Motivation, überhaupt auf das Instrument des Referendums zurückzugreifen: die Rückbindung europäischer Politikprozesse an die Bevölkerung. Was in der "Erklärung zur Zukunft der Union" noch als Absichtserklärung propagiert wurde , sollte nun in die Realität überführt werden: Europa sollte vom Eliten- zum Bürgerprojekt werden. Trotz ihrer verlockenden Einfachheit, ist diese Logik nicht aufgegangen. Die Bürgerinnen und Bürger haben das ihnen übertragene Projekt erst einmal gestoppt. Die Gründe für dieses Scheitern liegen in der Kurzsichtigkeit der obigen Argumentation, die die nachhaltige Verankerung dieser Idee zur Sicherung einer wirklichen Partizipation als entscheidenden Faktor vernachlässigt.

Voraussetzung: aktive Bürgergesellschaft

Damit der Schritt von der reinen Gestaltungsmöglichkeit hin zur tatsächlichen verantwortungsvollen und informierten Nutzung dieser gelingt, muss die elementarste aller Voraussetzungen erfüllt sein: eine mündige und aktive Bürgerschaft. Diese wiederum darf – gerade im europäischen Kontext – nicht als gegeben angesehen werden, sondern bedarf zu ihrer Entstehung und ihrem Erhalt einer kontinuierlichen und systematischen Informations- und Kommunikationsleistung über die Strukturen, Inhalte und Zielsetzungen der EU. Genau hier liegt der eigentliche Ursprung der gegenwärtigen Krise: in der langjährigen, systematischen Vernachlässigung einer nachhaltigen und qualitativen europäischen Bildungsarbeit.

Ein Blick auf die Ergebnisse der letzten Eurobarometer-Umfrage zur europäischen Verfassung genügt, um das eklatante Informationsdefizit der europäischen Bürgerinnen und Bürger bezüglich der Verfassung zu belegen. Ein Drittel aller Europäer hat noch nie von der Verfassung gehört, 56% wissen zwar von ihrer Existenz, kennen aber keinerlei Inhalte. Alarmierend ist, dass diese Werte noch wesentlich höher liegen, betrachtet man allein junge Europäer zwischen 15 und 24 Jahren, wobei 43% nicht einmal wissen, dass überhaupt ein europäischer Verfassungsentwurf existiert. In Verbindung mit den Ergebnissen der Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gewinnen diese Zahlen eine besondere Brisanz. Die Erhebung zeigt eine deutliche lineare Verbindung zwischen dem Wissensstand bezüglich der Verfassung und der Unterstützung des Textes. Je besser die Menschen informiert sind, desto eher tendieren sie dazu, die Verfassung zu befürworten. Die bedeutet im Umkehrschluss, dass Unwissen bzw. Missverständnis der Verfassungsinhalte die ablehnende Tendenz verstärken. Dies soll selbstverständlich nicht heißen, dass viele Bürgerinnen und Bürger nicht auch berechtigte inhaltliche Gründe vorbringen und eine informierte Entscheidung gegen die Verfassung treffen. 20% der europäischen Verfassungsgegner gaben jedoch explizit an, aufgrund fehlender Informationen – praktisch ‚sicherheitshalber’ – dagegen zu sein.

Die eindeutige Verbindung zwischen fehlender Information und Ablehnung der Verfassung bestätigt die Feststellung, dass sich Europa in einer Krise auf dem Gebiet der Vermittlung und der Kommunikation mit seinen Bürgern befindet, die nun über den negativen Ausgang der Referenda auf die EU und ihre Institutionen zurückschlägt. Somit ist der aktuelle Zustand seitens der Politik selbst verschuldet und kann nur dadurch gelöst werden, wenn der jetzt offensichtlich gewordene Informationsdruck erkannt und aktiv beantwortet wird.

Allerdings kann es sich hierbei nicht um eine rein passive Vermittlung von Daten handeln. Ziel sollte vielmehr sein, gerade junge Menschen in eine aktive Auseinandersetzung mit europäischer Politik zu versetzen, die auch zu einer Beteiligung an der zukünftigen Entwicklung der Europäischen Union motiviert. Weit über Initiativen wie den Verfassungskonvent hinaus müssen die Bürgerinnen und Bürger Gelegenheit erhalten, ihre Anliegen, Vorschläge aber auch Ängste und Befürchtungen zu formulieren und vorzubringen und damit Einfluss auf die zukünftige Gestaltung der EU nehmen zu können. Erst der aktive gesellschaftliche Diskurs stellt eine tragfähige Grundlage für die kommenden Herausforderungen der EU dar.

Wege aus der Krise: Nachhaltige Bildungsarbeit stärken und konkrete Beteiligungsmöglichkeiten schaffen

Nun kann nicht behauptet werden, dass nationale wie europäische Entscheidungsträger angesichts der beunruhigenden Umfragewerte in Frankreich und den Niederlanden überhaupt nicht reagiert hätten und dass es keine Ansätze zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Verfassungsinhalten in der öffentlichen Debatte gegeben hätte. Doch genau in der Reaktion an sich liegt schon das Problem. Das Bemühen um Vermittlung entstand aus einer defensiven Reaktion auf die drohende Entscheidungsniederlage heraus und gründete sich gerade nicht in der Absicht, systematische und längerfristige Kommunikationskanäle aufzubauen. Der Einstieg in die Debatte und das Angebot an Informationen kamen folglich zu spät, waren punktuell und zweckorientiert und zielten oft stärker auf Öffentlichkeitswirksamkeit denn auf Qualität. Die Überlagerung der europäischen Inhalte durch nationale Probleme und internen parteipolitische Machtkämpfe tat ihr übriges. Aus dieser Lektion muss die europabezogene Bildungspolitik lernen. Um zielgerichtet zu sein, muss sie vier Voraussetzungen muss erfüllen: Sie muss nachhaltig, qualitativ und zielgruppenorientiert sein, sowie konkrete Beteiligungsmöglichkeiten aufzeigen.

Nachhaltigkeit ist das Prinzip, das jegliche europäische Vermittlungsbemühungen leiten sollte und das in der Vergangenheit – oft aufgrund finanzieller Überlegungen – massiv vernachlässigt wurde. Diese Vernachlässigung langfristig durchdachter Bildungsangebote, die den Menschen eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit europäischen Strukturen und Inhalten ermöglichen könnten, zugunsten kurzfristiger, punktueller und meist zweckgebundener Information hat sich jetzt gerächt. Die europäische Bevölkerung fühlt sich überrannt und instrumentalisiert, wie auch gleichzeitig entfremdet von den europäischen Entwicklungen der letzten Jahre und hat diesem Gefühl in den Volksabstimmungen Ausdruck gegeben. Dabei mangelt es meist bei den Fachexperten nicht an Konzepten für dauerhaft angelegte Vermittlung, sondern vielmehr an der finanziellen Ausstattung zu ihrer Umsetzung. Hier muss in der Politik ein Prozess des Umdenkens einsetzen, infolgedessen der wohlwollenden politischen Rhetorik auch Taten folgen müssen. Im Lichte der aktuellen Ratifizierungsergebnisse sollte deutlich geworden sein, dass die Kosten einer europäischen ‚Sparflammenbildungsarbeit’ letztendlich weitaus höher sind als frühzeitige Investitionen in eine nachhaltige Vermittlung.

Eng verbunden mit diesen Überlegungen ist das Kriterium der Qualität der Bildungsangebote. Bei der Auswahl der zu fördernden Bildungsprojekte muss gewährleistet sein, dass die inhaltliche Arbeit und die Vermittlung wichtiger Informationen im Vordergrund stehen. Öffentlichwirksame Aktionen und Blickfänge mögen hilfreich sein, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf das Thema Europa zu lenken, dürfen jedoch nicht der alleinige Schwerpunkt sein. Nur über das Angebot einer ehrlichen, inhaltlichen Auseinandersetzung mit europäischen Themen kann gewährleistet werden, dass sich eine informierte und mündige europäische Bürgergesellschaft entwickelt. Insbesondere bei einem so komplexen Thema wie Europa ist es nicht ausreichend, nur Daten und Informationen zur Verfügung zu stellen. Vielmehr ist es wichtig, einen persönlichen Bezug herzustellen sowie interaktive, erfahrungs- und handlungsorientierte Angebote zu unterbreiten.

Hierbei ist selbstverständlich auch zu beachten, dass sich Bildungsarbeit an den Lern- und Informationsbedürfnisse der Gesellschaft orientieren muss. Diese Bildungspräferenzen variieren jedoch stark. Jugendliche lernen anders als Senioren, Informationskanäle wie Printmedien, Fernsehen, Radio usw. werden sehr unterschiedlich genutzt, ebenso wie der in die Bildung investierte Zeitaufwand stark variiert. Europäische Bildungsarbeit darf sich nicht auf ein eingeweihtes Fachpublikum beschränken, sondern muss über zielgruppenspezifische Differenzierung ein möglichst breites Spektrum der Gesellschaft erreichen. Ein bewährtes Konzept bietet hier die "peer group education", die auf Vermittlung und gemeinsames Lernen in vertrauten Lebensräumen abzielt. Insbesondere im Jugendbereich hat sich dieser Ansatz bewährt, bei dem Jugendliche selbst als Informationsvermittler eingesetzt werden, wodurch eine große Nähe und Vertrautheit entsteht, die dem gemeinsamen Lehr- und Lernprozess zugute kommt .

Die Auseinandersetzung mit europäischen Themen darf dabei aber keine Einbahn-Vermittlung sein. D.h. es geht nicht nur darum, den Bürgerinnen und Bürgern europäische Politik zu vermitteln, sondern es geht gleichzeitig immer darum, auch deren Reaktionen, Kommentare, Anregungen etc. öffentlich zu machen. Eine aktive europäische Bürgergesellschaft kennzeichnet sich dadurch aus, dass in der offenen Auseinandersetzung mit der aktuellen Politik Informationen in beide Richtungen fließen und so gemeinsame Politikgestaltung stattfinden kann. Nur so kann erreicht werden, dass ein wichtiges Projekt wie die EU-Verfassung auch die notwendige Resonanz und Unterstützung in der Bevölkerung findet.

Licht am Ende des Tunnels

Lässt man sich auf europäischer wie vor allem auch auf nationaler Ebene konsequent auf eine in diesem Sinne verstandene Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit ein, so besteht berechtigte Hoffnung, dass es langfristig gelingt, Europa und seine Bürgerinnen und Bürger wieder zusammenzubringen und die europäische Integration gemeinsam voranzutreiben. Dies wird jedoch nur möglich sein, wenn das plebiszitäre Nein zur Verfassung als ein klares Ja für eine nachhaltige Bildungsarbeit sowie eine aktive Beteiligungsoffensive verstanden wird. Schafft man es auf lange Sicht nicht, die Vermittlungskrise in Europa zu überwinden, so braucht man sich der institutionellen Krise erst gar nicht annehmen. Denn ohne die aktive Partizipation ihrer Bürgerinnen und Bürger bleiben Institutionen eine leere Hülle.


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