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Der "Clash of Generations" ist vermeidbar

Funktionen politischer Bildung in einer transnationalen Technologiegesellschaft

10.04.2003 · Jürgen Turek



Die sicher geglaubten Besitzstände im Sozialstaat schwinden. Bei den Menschen im Lande kommt die dumpfe Ahnung auf, dass die Einbahnstraße eines linear wachsenden Wohlstands und dauerhafter sozialer Sicherheit in Zukunft eine Gegenbahn erhält. Die Architekten des Neoliberalismus und die Verwalter der Flaute in den öffentlichen Kassen arbeiten daran. Eine Ursache dafür ist der demographische Wandel, der den konventionellen Generationenvertrag erodiert. Mit punktuellen Maßnahmen haben die Verantwortlichen versucht, diesen Vertrag zu reformieren, doch nur mit geringem Erfolg. Die Fieberkurve des Reformstaus steigt. Die bedrohlichen Ahnungen bekommt durch die Statistik wissenschaftlich ihr empirisches Gewicht. Die deutsche Gesellschaft altert und schrumpft zugleich. Da mehr Menschen sterben als geboren werden, verliert das Land pro Jahr rund 200.000 Menschen. Gleichzeitig steigt das Alter und den Erwerbstätigen stehen immer mehr Menschen im Ruhestand gegenüber. 1950 betrug der Anteil der 20-jährigen an der Gesamtbevölkerung noch ein Drittel. Heute beträgt er ein Fünftel und die Berechnungen gehen davon aus, dass er in rund 40 Jahren nur noch bei 15 Prozent liegen soll. Der Grund dafür liegt in einer Steigerung der durchschnittlichen Lebenserwartung die von durchschnittlich knapp 80 Jahren gegenwärtig auf durchschnittlich etwa 90 Jahre im Jahr 2050 ansteigen soll; gleichzeitig sinkt die "Fruchtbarkeitsrate" der jungen Familien in Deutschland, die mit durchschnittlich ca. 1,3 Kindern weniger Nachwuchs "produzieren", als dass es für eine Gleichgewichtigkeit von Jungen und Alten notwendig ist. Im Ergebnis werden in etwa 30 Jahren in den modernen Industrie- und Technologiegesellschaften - also auch in Deutschland - durchschnittlich drei Erwerbstätige auf einen Rentenberechtigten treffen; heute beträgt dieses Verhältnis noch etwa fünf zu eins. In Deutschland selbst werden dann nur noch 65 - 70 Millionen Menschen leben, wenn familien- und migrationspolitisch nichts geschieht.

Diese nackten Zahlen, sie sind weitgehend bekannt - provozieren nun aber zunehmend die Angst vor dem "Krieg der Generationen". Denn der demographische Faktor kommt mittlerweile mit voller Wucht in dem Rentensystem an. Die Jugend, so die simple Schlussfolgerung, werde sich den Folgen ihrer Dezimierung verweigern und sie werde sich dem Zwang entziehen, immer mehr Alte zu versorgen und immer stärker angestiegene Altlasten der Vergangenheit mit freundlicher Miene zu entsorgen.

"Gespenst eines Krieges der Generationen"

Die Zuversicht, der Staat, er werde es schon richten, hat bei vielen Menschen keine Konjunktur. Und in der Tat, der Staat verliert an Handlungsfähigkeit. Die Gesamtverschuldung von Bund und Ländern macht heute sagenhafte 1,29 Billionen Euro aus. Der Schuldenzuwachs beträgt pro Sekunde annähernd zwei Euro und alleine der Bund mußte seine Nettokreditaufnahme 2002 um 13,5 auf insgesamt 34,6 Milliarden ausweiten. Wer, so die teure Überlegung, soll das eigentlich jemals bezahlen? Vielen Menschen, ob alt, ob jung, ist das klar und es knirscht im sozialen Gefüge der deutschen Gesellschaft.

Das fein austarierte System des Generationenvertrags steht insgesamt zur Disposition. Schon heute ist etwa klar: das Rentensystem wird so nicht ohne weiteres funktionieren. Der demographische Wandel wird Rentner und Beitragszahler etwas kosten. Nach der letzten Rentenreform soll der Beitrag bis 2020 unter 20 Prozent bleiben, danach ungefähr auf ein Niveau von 22 Prozent steigen; das Rentenniveau wird in diesem Modell von derzeit 70 Prozent auf etwa 67 Prozent sinken. Die Erwerbstätigen werden mehr zahlen, dann aber im Alter auch weniger erhalten. Alleine das wird schon jetzt vielerorts als schreiende Ungerechtigkeit empfunden oder wenigstens so artikuliert. Denn die letzte Reform wird von vielen noch nicht als das letzte Wort angesehen. Kommt es zum "Clash of Generations"? Droht eine neue APO der jugendlichen Art oder werfen die Jungen einfach den Bettel hin? Das alles muss nicht sein, nimmt man die Krise der Generationengerechtigkeit persönlich und gesellschaftspolitisch ernst. Dazu gehören viele Schritte. Das Verhältnis zwischen Jungen und Alten ist zunächst einmal, nicht per se vergiftete. Viele älteren Menschen, die heute über eine erhebliche Kaufkraft verfügen und im Normalfall über eine große Liebe mit ihren Kindern und Enkeln verbunden sind, können den Nachwuchs mit versorgen und dieser kann sich und muss sich stärker privat absichern. Bemerkenswert dabei ist, dass vor dem Hintergrund der volatilen Geschlechterverhältnisse, die sich in hohen Scheidungsraten niederschlägt, die persönlichen Generationenbande wenigstens auf familiärer Basis stärker geworden sind. Aber dennoch gilt es in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht, alle Parteien des formalen Generationenvertrags für eine insgesamt dramatisch veränderte Lage zu sensibilisieren. Und deshalb sind in starker Weise auch die politische Bildung und eine diesbezüglich aktivere Politikberatung gefordert. Denn sonst, so steht zu befürchten, geht durch das Gefühl wachsender Unfairniss die politische Kultur zwischen Gebenden und Nehmenden "den Bach hinunter".

"Gefühl wachsender Unfairness zwischen Gebenden und Nehmenden"

Wieso? Wirtschaft, Politik und Gesellschaft verändern sich erheblich. Der demographische Wandel ist hier nur ein Basistrend. Er wird durch die Globalisierung und die wachsende Kluft zwischen einerseits technologischen sowie wirtschaftlichen und andererseits gesellschaftspolitischen Innovationen in starkem Maße flankiert. Die dichter werdende weltwirtschaftliche Verflechtung und das Ineinandergreifen von vielen technischen Basisinnovationen in der Informations- oder Biotechnologie führen zu einer radikalen Veränderung der uns bekannten Gesellschaftswelt - mit allen Konsequenzen für das gewohnte soziale Miteinander. Mit atemberaubender Geschwindigkeit entsteht der Entwurf einer vernetzten Gesellschaftswelt. Wirkungsmacht und Synergien von moderner Globalität, technologischem und sozialen Wandel strahlen auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche - auf Wirtschaft, Politik, Recht, Familie, Erziehung, Wissenschaft, Kunst, Religion und Medizin - in unterschiedlicher Weise aus. Der Paradigmenwechsel stellt nahezu alles in Frage, nicht nur die Formen der Wertschöpfung, sondern auch das gesamte gesellschaftliche Beziehungsnetz, die Besitzverhältnisse, die Herrschaftsstrukturen oder religiöse und familiäre Bindungen. Die Industriegesellschaft wird durch die "Transnationale Technologiegesellschaft" abgelöst. Das ist das Etikett der Zukunftsgesellschaft.

Das 20. Jahrhundert hat sich mit einschneidenden Verschiebungen im Koordinatensystem von Industriegesellschaft und Nation verabschiedet. Die Rahmenbedingungen der modernen Gesellschaft wurden in diesem System durch zwei historisch überzeugende Ideen definiert: Nationalstaat und Nationalökonomie im Gewande einer mehr oder weniger sozial abgefederten Marktwirtschaft. Ihre Verbindung gewährleistete wachsende Einkommen durch effiziente marktwirtschaftliche Wertschöpfung. Beide bildeten Bezugspunkte kollektiver Identität und den Ordnungsrahmen für die Schlichtung sozialer und politischer Konflikte. Das Wirtschaftsmodell basierte auf einer Marktordnung, die den Einsatz der Produktionsfaktoren belohnte, Wettbewerb begünstigte und Eigentumsrechte sicherte. Dies war die Grundlage wirtschaftlichen Wachstums und der Fähigkeit zum Strukturwandel. Im Rahmen der politischen Verfassung waren die politischen Grundrechte klar definiert. Die Gewaltenteilung, ein demokratisches Regierungssystem und ein funktionierendes Parteiengefüge garantierten eine größtmögliche Machtkontrolle und politische Repräsentation der Bürger. Gestützt auf den politischen Konsens der Parteien und Interessengruppen brachte die Industriegesellschaft auf der Grundlage robuster Generationen- und Gesellschaftsverträge diejenigen Ausgleichsmechanismen hervor, durch die die konfessionellen und sozialen Konflikte moderiert werden konnten. Im Zeitalter der transnationalen Technologiegesellschaft wird insgesamt die ordnende und identitätsstiftende Kraft des Nationalstaates und der Nationalökonomie schwächer. Reichweite und Geschwindigkeit des Wandels fordern die Anpassungsfähigkeit staatlicher Institutionen und gesellschaftlicher Akteure heraus. Die zentralen Ressourcen sind in Zukunft nicht mehr Eisen und Stahl, nicht Elektrizität oder Chemie; auch Markt und Hierarchie werden sich prägnant ändern. Wissen und Kommunikation, transnationale Netze und dezentrale Produktion werden somit das Wirtschaftsleben prägen. Alles dies hat gravierende Auswirkungen auf die Sozialstruktur und die Versorgungssysteme der Technologiegesellschaft. Und hier schält sich im Kern die Notwendigkeit eines erneuerten Generationenvertrags heraus.

In diesem Kontext bedarf es auch einer innovativen politischen Bildung. Denn die Zukunftsgesellschaften stehen vor einem gewaltigen internen Transformationsprozess, bei dem die Elastizität und Effizienz des Generationenvertrags nur ein Problem von vielen ist. Dieser Prozess wird subjektiv unterschiedlich eher als Risiko oder eher als Chance wahrgenommen. Die Risiken lassen sich mit den anschaulichen Bildentwürfen der "Risikogesellschaft" Ulrich Beck) oder der "Desintegrierenden Gesellschaft" (Wilhem Heitmeyer) charakterisieren. Wenngleich andere Gesellschaftsentwürfe die positive Ausstrahlung globalen Wandels als auch technologischer Innovationskraft betonen, sind heraufziehende Probleme unverkennbar. Der Aspekt der Generationengerechtigkeit gehört entschieden dazu. Er wird zur Aufgaben politischer Bildung im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung, rationalen Aufklärung und Deutung sowie der Suche nach Lösungen für diese gesellschaftliche Schlüsselfrage.

"Politische Bildung initiiert eine zukunftsorientierte Selbsteinwirkung der Gesellschaft"

Insgesamt gilt es im Zuge der Verantwortung für die nachwachsende Generation das jetzige politische System im Ganzen nachhaltig zu gestalten. Politische Bildung initiiert eine zukunftsorientierte Selbsteinwirkung der Gesellschaft auf sich selbst und bildet so eine Investition in ihre Humanressourcen. Sie hat die Pflicht, den institutionellen Wandel zu verdeutlichen, entstehende politische Defizite zu identifizieren und muss auch neue politische Regelungsimpulse formulieren dürfen. Ein innovatives Konzept politischer Bildungsarbeit kann somit den sozio-ökonomischen Wandel sinnvoll flankieren und avanciert damit zum Orientierungsdienstleister wie Datennavigator in einer politisch unüberschaubar gewordenen Welt. Sie hat sich darüber hinaus als Kommunikator zwischen staatlichen und nichtstaatlichen bzw. wirtschaftlichen Akteuren zu verstehen, deren politisches Gewicht in der Zivilgesellschaft zunehmend steigen wird. Ein Mehr an Demokratie und Partizipationsmodellen, die Intensivierung von Lebenskompetenz und lebenslanges "Lernen in Zusammenhängen" stellen zentrale Schlüsselbegriffe einer zukunftsorientierten politischen Bildung dar. So erfordert die Tendenz zu neuen gesellschaftlichen Organisationsformen eine intensive Diskussion auch über die Zukunft des Generationenvertrags. Hier gilt es, für positive Lösungsmöglichkeiten zu werben und das Reizthema "Krieg der Generationen", der vermeidbar ist, sachlich nüchterner zu thematisieren. Nachhaltigkeit bezeichnet den Kernbereich der politischen Bildung im Epochenwechsel. Die transnationale Technologiegesellschaft stellt gesteigerte Anforderungen an das pädagogische Personal, die internationale und interdisziplinäre Ausrichtung der Angebote, die Methodenauswahl und verstärken die Handlungsnotwendigkeit der Bildungsarbeit. Das Schlagwort "Global denken - lokal handeln" gehört zu den prägnantesten Chiffren einer bewussten Auseinandersetzung mit unserer zukünftigen Gesellschaftswelt. Das Bewusstsein für globale Zusammenhänge, die gerechtere Nutzung von Ressourcen sowie die gemeinsame Verantwortung für nachfolgende Generationen muss demnach stärker in den Mittelpunkt politischer Bildung rücken.


* Der Beitrag erschien ebenfalls in DIE II/ 2003, Zeitschrift für Erwachsenenbildung.


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