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Offener Brief zur Zukunft Europas

Ein Appell an Europas Intellektuelle - Mitunterzeichner Prof. Dr. Werner Weidenfeld

25.11.2011 · Erschienen in: DIE ZEIT



Wir, die Unterzeichner, appellieren an Europas Intellektuelle, sich kritisch mit der Europäischen Union auseinanderzusetzen und nicht davor zurückzuweichen, den Status Quo in Frage zu stellen. Das europäische Streben nach Frieden, Freiheit und Wohlstand geht über die bestehenden Institutionen und ihre Defizite weit hinaus. Mit dem Ziel vor Augen, eine noch engere Union zu schaffen, brauchen wir mehr Europa – aber nicht unbedingt mehr von dem gleichen.

Europa kann nicht ohne eine breite Zustimmung der Bürger aufgebaut werden. Bei Teilen der europäischen Bevölkerung zeigt sich eine wachsende und oft diffuse Europaskepsis. Wir sollten jedoch nicht die Idee eines „Europas der Bürger“ einem „Europa der Institutionen“ oder einem „Europa der Mitgliedsstaaten“ gegenüberstellen. Das Europa, das wir brauchen, sollte solche künstlichen Teilungen überbrücken und ein Bezugssystem liefern, das die Stimmen der Menschen zu Hause und in Brüssel gleichermaßen hörbar macht. Die immer engere Union im Sinne der europäischen Verträge ist eine Union, die Europäer, ihre Staaten und die Institutionen, die sie aufgebaut haben, in ein demokratisches Ganzes integriert.

Um der vorherrschenden öffentlichen Unzufriedenheit zu begegnen, sollte daher über direktdemokratische Elemente zur Kontrolle Brüssels genauso nachgedacht werden wie über eine Stärkung repräsentativer Strukturen. Nationale wie auch europäische Wahlen sollten den Bürgern ein effektives Mittel bieten, ihren Willen auszudrücken und ihren Einfluss geltend zu machen. Dazu müssen Wahlen jedoch echte Alternativen bieten. Die Gefahr der Frustration wächst, wenn die Bürger immer wieder vor „alternativlose“ Maßnahmen gestellt werden. Es gibt immer Alternativen – nur müssen deren Konsequenzen erkannt und sorgfältig abwägt werden.

Das ist die Aufgabe der Intellektuellen: In den Worten Ralf Dahrendorfs sollen sie jede Weisheit anzweifeln, alles hinterfragen, was als selbstverständlich hingenommen wird, jede Autorität in Frage stellen und all jene Fragen stellen, die sonst niemand zu fragen wagt. Kritik an der Europäischen Union wurde zu lange ignoriert und verharmlost. Als Intellektuelle müssen wir solche Stimmen ernst nehmen, gerade wenn wir mit ihnen nicht übereinstimmen! Zudem wurde in der Vergangenheit die Kritik an einzelnen europapolitischen Entscheidungen viel zu oft mit einer antieuropäischen Einstellung gleichgesetzt, während stillschweigende Duldung als proeuropäische Haltung angesehen wurde.

Die Zeit ist reif, dass wir Intellektuelle Argumente und Ideen umfassend aufgreifen und dazu beitragen, diese in substanzielle Lösungen für Europas Probleme umzuwandeln. Es ist das Ziel der Unterzeichner, einen solchen Prozess auf den Weg zu bringen und andere zu inspirieren, die Debatte über Europa mitzugestalten. Gemeinsam müssen wir die berechtigten Erwartungen und Zweifel der Menschen aufgreifen und dazu beitragen, ein besseres Europa für seine Bürger und für die Welt zu schaffen.


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