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„Nobelpreis absolut angemessen“

Interview Prof. Dr. Werner Weidenfeld

12.10.2012 · Deutsche Welle



Der Friedensnobelpreis lenkt den Blick auf die Europäische Union weg von der aktuellen Krise auf die historische Leistung der Europäer, sagt der Politologe und Historiker Werner Weidenfeld im Interview mit der DW.

Deutsche Welle: Herr Professor Weidenfeld, die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis bekommen. Sie war ja schon oft auf der Kandidatenliste. War es für Sie eine Überraschung, dass es heute geklappt hat?

Werner Weidenfeld: Nein, und es ist auch absolut angemessen. Diese große Leistung Europas wird damit in eine historische Perspektive gerückt. So ist ja auch die Begründung des Nobelkomitees. Die Ehrung lenkt etwas ab von unserem täglichen Klein-Klein, das gewissermaßen diese große historische Leistung manchmal etwas in Vergessenheit geraten lässt. Deshalb ist der Preis jetzt im Grunde genommen auch ein konstruktiver Beitrag zur Europapolitik und Weltpolitik.

Was ist der Kern der historischen Leistung? Ist es das Friedensprojekt oder die Integration mit Blick auf die osteuropäischen Staaten?

Der Kern ist, dass die Integration die historische Antwort auf die jahrhundertelange Leidens- und Kriegsgeschichte Europas war und ist. Der erste große Schub kam nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Erfahrung einer leidvollen Geschichte: Jetzt muss der Hebel umgelegt werden! Und danach ging es Schritt für Schritt weiter - bis heute zur großen Rechtsgemeinschaft von 500 Millionen Menschen, die ihr Leben organisieren in einem gemeinsamen Rechtsrahmen. Und das ist natürlich fundamental, und es ist gut, dass das in unseren Horizont rückt - wenn wir eigentlich Tag für Tag um den Euro, um Zinssätze und Ähnliches ringen.

Hat es etwas wie die Europäische Union in der Menschheitsgeschichte schon einmal gegeben?

Nein, das ist einmalig. Das Interessante ist ja, dass auf allen Erdteilen Versuche laufen, dies doch ein Stück weit auch nachzuahmen. In Asien, in Afrika, überall gibt es Ansätze zur Begegnung von Ländern, die sich bisher eigentlich eher über Konflikte begegnet waren.

Die Europäische Union hat große Integrationserfolge gefeiert, sie ist aber in ihrer Geschichte auch ständig von Krisen begleitet gewesen. Gehören diese Krisen mit zum Erfolg, sind das vielleicht zwei Seiten derselben Medaille?

Ja, ein Stück weit schon. Sie können ein dickes Buch über die Erfolgsgeschichte Europas schreiben. Sie können aber auch ein dickes Buch über die Krisen Europas schreiben. Sie haben immer dann, wenn es zu Krisen kam, neue Integrationsschübe. Das fing schon in den 1950er Jahren an. Die europäische Verteidigungsgemeinschaft und die politische Gemeinschaft scheiterten, und dann gab es den Aufbruch zu den Römischen Verträgen. In den Siebziger und Achtziger Jahren, als sich Europa in der so genannten Euro-Sklerose befand, gab es den Aufbruch zur Vollendung des Binnenmarktes. Was wir gegenwärtig erleben, ist ja wieder so eine Dialektik aus Krise und Erfolg. Wir haben beispielsweise für den großen Einschnitt "Fiskalpakt" zur Bekämpfung der Schuldenkrise zwei Monate Verhandlungszeit unter Druck verhandelt. Früher haben wir für den letzten großen europäischen Vertrag, den Lissabon-Vertrag, ja praktisch neun Jahre gebraucht. Unter Druck findet jeweils ein Lernprozess statt. Wir sind jetzt wieder mitten in einem solchen Lernprozess. Da ist es gut, einmal diesen historischen Rahmen aufzuzeigen.

Kann man jetzt schon sagen, was die Europäische Union als nächstes tun muss? Was fehlt noch?

Ja, das kann man zweifellos sagen. Die Tagesordnung ist greifbar. Der Fiskalpakt ist ja nicht das Ende der Geschichte. Wie dieser politische Rahmen handlungsfähiger gemacht werden kann, wird sich in den nächsten zwei, drei Jahren entscheiden müssen. Wenn Sie dieses erreichen, haben Sie weitere Grundsatzfragen auf dem Tisch: Die Frage der Legitimation dieser weiteren Integration! Das ist ja ein riesiger Kompetenztransfer. Das zweite große Thema wird sein: Wie kann dieser große historische Vorgang jetzt transparenter ausgestaltet werden, damit die Menschen das auch alles wirklich begreifen. Und der dritte Themenkomplex wird sein: Wie organisieren wir die Führungsstruktur in diesem großen machtvollen Gebilde, das ja auch eine große weltpolitische Mitverantwortung zu tragen hat?

Wer sind eigentlich Preisträger. Wir alle, Sie und ich, sind ja auch Bürger der Europäischen Union. Haben alle 500 Millionen EU-Bürger diesen Preis mitgewonnen und verdient?

Ja, und wir schicken dann zur Entgegennahme unsere Repräsentanten, den Chef der EU-Kommission, den Präsidenten des Europäischen Rates und den Präsidenten des Europäischen Parlaments. Es wäre schön, wenn da mehrere  Vertreter hingingen. Denn das vermittelt ja auch die Arbeitsteilung in dieser Führung. Aber indirekt können wir Europäer uns alle mit ausgezeichnet fühlen.


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