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"Finger Europas sind überall drin"

Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld

Werner Weidenfeld, Politikwissenschaftler und früherer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl, im Gespräch mit der "Presse" über Machtverschiebungen in der EU.

WOLFGANG BÖHM (Die Presse)

Originalartikel

28.04.2010 · Die Presse



„Die Presse“: Der Lissabon-Vertrag hat das Machtgefüge der EU verändert. Jetzt müssen sich die neuen Führungskräfte, der Ratspräsident und die Außenministerin, erst etablieren. Gleichzeitig kämpfen Rat, Kommission und Parlament um ihre Macht. Hat uns dieser Vertrag statt mehr Effizienz nur einen neuen Machtkampf gebracht?

Werner Weidenfeld: Der Lissabon-Vertrag bringt einen Kompetenztransfer auf die europäische Ebene, und er bringt eine neue Führungsstruktur. Die Ausformung dieser neuen Führungsstruktur ist noch unklar. Das muss sich erst einleben. Jetzt geht es natürlich darum, wer wirklich das Sagen hat.

Sind Ratspräsident Herman Van Rompuy und Außenministerin Catherine Ashton stark genug, sich einen Machtbereich zu erkämpfen?

Weidenfeld: Derzeit gibt es auf dieser Ebene keine großen strategischen Führungsfiguren. Das ist ein europäisches Defizit. Die Regierungschefs der EU hatten offenbar kein Interesse daran, eine starke Führungsstruktur aufzubauen, weil dies natürlich auch ihre eigene Entmachtung bedeutet hätte. Es hat dies aber immer wieder in der Geschichte der Union gegeben: Man hat schwache Leute nominiert. Und dann kam die Erkenntnis, dass man doch starke Personen braucht, so wie einst Jacques Delors. Es hat aber doch auch das Europaparlament mehr Macht bekommen und scheint das weidlich auszunutzen.

Erleben wir bei der Parlamentarisierung der Europäischen Union nun einen Durchbruch?

Weidenfeld: Wer ist der eigentliche Gewinner dieser neuen Konstellation? Es ist das Europäische Parlament. Es hat als machtlose Instanz angefangen und ist Schritt für Schritt mächtiger geworden. Jeder neue Vertrag hat ihm einen Machtzuwachs gebracht. Mit dem Lissabon-Vertrag haben wir praktisch ein Zwei-Kammer-System. Es kommt kein Gesetz zustande, wenn nicht neben dem Rat auch das Parlament mitmacht. Das Parlament hat sich sogar schon ein Stück an Initiativrecht erkämpft. Bisher waren wichtige Einigungen in der Union meist eine Vorentscheidung der großen Länder.

Wie gehen diese großen Länder nun mit der neuen Machtkonstellation um?

Weidenfeld: Sie kommen ganz gut zurecht. Innenpolitisch haben auch diese Länder viel Einfluss verloren. Aber sie sind Machtakteure auf europäischer Ebene geblieben. Und das nehmen sie auch deutlich wahr – siehe zuletzt in der Griechenland-Krise.

Sie sprechen von einem neuen Kompetenztransfer in Richtung EU. Aber gibt es nicht auch eine Gegenbewegung? Gibt es nicht gerade jetzt den Wunsch nach Renationalisierung? In der Krise drängt Frankreich auf seine Interessen in der Handelspolitik. In der Griechenland-Frage verweigerte und verzögert Deutschland eigener Interessen wegen Solidarität.

Weidenfeld: Die Finanzkrise hat gezeigt, dass ein einzelner Staat zu klein ist, um diese Probleme zu bewältigen. Aber das Globale ist noch zu diffus. So bleibt als Aktionsebene die Europäische Union. Es gibt einen Trend in Richtung einer starken Europäisierung, dem auch im Lissabon-Vertrag Rechnung getragen wurde. Und jetzt kommt die kompensatorische Gegenbewegung. Rechte, nationale Kräfte werden beispielsweise in Ungarn gewählt. Aber das sind Entwicklungen, die Europa nicht gefährden.

Aber es gibt ja auch Versuche, europäische Politik stärker national zu verankern. Die Tories haben in ihrem Wahlprogramm Referenden für alle Kompetenzverschiebungen in Richtung EU gefordert. In Österreich gibt es diese Linie in der SPÖ.

Weidenfeld: Es wird hier aber nichts zurückgenommen. Die europäische Integration hat ein unglaublich hohes Niveau erreicht. Es gibt nur noch wenig, was politisch rein national lösbar ist. Die Finger Europas sind überall drin. Da ist es für mich plausibel, wenn gesagt wird: Also wenn es da noch zu weiteren Kompetenzverschiebungen kommt, dann müssen wir ganz genau hinsehen. Dahinter steht aber keine Renationalisierungsstrategie.

Wenn die Tories in Großbritannien gewinnen, werden bis auf Spanien alle großen Mitgliedstaaten von Mitte-rechts-Parteien regiert. Wird das Einfluss auf die EU haben?

Weidenfeld: Nein. Und zwar, weil die alte Farbenlehre nicht mehr aussagekräftig ist. Schauen Sie die Politik der deutschen Christdemokraten an, die unterscheidet sich nicht mehr von der Politik, die einst die Sozialdemokraten gemacht haben. In Deutschland gibt es Umfragen, die zeigen, dass 75 Prozent der Bevölkerung keinen Unterschied mehr zwischen diesen Parteien sehen. Das bringt natürlich auch einen Vertrauensverlust für die Politik. Die Politik hat ihre Orientierungsleistung weitgehend eingebüßt. Diese Politik bindet die Menschen nicht mehr. Und dann kommt auf EU-Ebene die Intransparenz hinzu. Ein Beispiel dafür ist der über 400 Seiten starke Lissabon-Vertrag. Wenn sich diese beiden Fäden verbinden, dann sehe ich ein ernstes Problem. Europa muss deshalb gerade jetzt seine Transparenz erhöhen und den Menschen wieder langfristige strategische Angebote vorlegen.


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