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Amerikas Angst, Europas Schwäche

Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld zu den transatlantischen Beziehungen

Georg Kern von der Zeitung Volksstimme (Magdeburg) sprach mit Weidenfeld über die Beziehungen Deutschlands und Europas zu den USA.

20.06.2006 · Volksstimme Magdeburg



Volksstimme: Wegen des Irakkriegs sind die deutschamerikanischen Beziehungen auf einen historischen Tiefpunkt gesunken. Wie schätzen Sie heute das Verhältnis der Länder zueinander ein?

Werner Weidenfeld: Es ist unverkennbar, dass sich die Beziehungen wieder erheblich verbessert haben. Ich halte das Verhältnis heute für entspannt. Die Grundprobleme bleiben allerdings.

Volksstimme: Welche Grundprobleme meinen Sie ?

Werner Weidenfeld: Ich beobachte einen schwerwiegenden Vorgang, nämlich ein Auseinanderdriften der europäischen und der amerikanischen Gesellschaften. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ist feststellbar, dass die US-Gesellschaft eine andere Bedrohungsvorstellung und eine andere Sicherheits- und Risikokultur entwickelt hat, als wir Deutschen und Europäer. Das ist der eigentliche Grund für die vielen Verwerfungen der vergangenen Jahre.

Volksstimme: Welcher Risikokultur liegt die zutreffendere Realitätswahrnehmung zu Grunde: der europäischen oder der amerikanischen?

Werner Weidenfeld: Solche Fragen bekomme ich immer wieder gestellt. Ich halte sie allerdings für wenig hilfreich, um die Probleme zu lösen.

Volksstimme: Warum?

Werner Weidenfeld: Weil die subjektive Wahrnehmung elementarer Bestandteil solch großer politischer und kultureller Prozesse ist. Die Fragen, die wir uns stellen sollten, sind viel mehr: Wie nimmt die US-Gesellschaft nach den Anschlägen vom 11. September subjektiv ihr Bedrohungsrisiko wahr? Und wie gehen wir damit um?

Volksstimme: Aber der Mensch hat doch als vernunftbegabtes Wesen Maßstäbe entwickelt, um richtiges und falsches Handeln objektiv zu beurteilen. Auch eine US-Regierung muss sich an diesen Kriterien messen lassen.

Werner Weidenfeld: Die Politik arbeitet mit der subjektiven Wahrnehmung, nicht mit dem "Ding" an sich.

Volksstimme: Wie sieht die subjektive Risikowahrnehmung der US-Gesellschaft nach dem 11. September aus?

Werner Weidenfeld: Man muss sich die historische Dimension dieser Anschläge verdeutlichen: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fühlen sich die Amerikaner im eigenen Land wirklich bedroht. Das hat es noch nicht gegeben, höchstens während der Kubakrise 1962, als die Möglichkeit eines Konflikts auf dem Festland am Horizont auftauchte – und die Bevölkerung entsprechend sensibel aufschreckte. Die Amerikaner haben bis zum 11. September immer nur Konflikte mitgetragen, die weit von ihnen entfernt waren. Aber Al Qaida hat eine Auseinandersetzung mitten hineingetragen ins Herz der USA.

Volksstimme: Ist es wirklich die US-Gesellschaft, die diese Bedrohung empfindet, oder mehr die US-Regierung?

Werner Weidenfeld: Es ist die Gesellschaft, die deshalb allerdings nicht jeden Schritt der Regierung gut heißen muss.

Volksstimme: Was kann man tun, um das Auseinanderdriften Europas und der USA zu verhindern?

Werner Weidenfeld: Ich schreibe in meinem neuen Buch, dass vertiefende Integration in Europa eine Möglichkeit ist, die gegen diese Entwicklung hilft.

Volksstimme: Erläutern Sie das bitte.

Werner Weidenfeld: Ich glaube, dass die Europäische Union, insbesondere in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik, noch nicht der adäquate Partner und Gegenüber für die USA ist. Die Amerikaner sehen in Europa weniger die Erfolgsgeschichte, die die europäische Integration ja zweifellos ist. Die USA wollen jetzt ganz pragmatisch wissen: Was kann Europa leisten zur Lösung weltpolitischer Konflikte. Und da sind die Europäer nach wie vor relativ schwach, so dass wir als Dauerpartner für weltpolitische Konflikte überhaupt nicht zur Verfügung stehen. Wenn wir mehr Einfluss auf die USA nehmen wollen, müssen wir stärker und einiger sein.

Volksstimme: Wie realistisch ist es, mehr Integration zu fordern? Der jüngste Gipfel in Brüssel weckt den Eindruck, die EU sei an einem toten Punkt angelangt.

Werner Weidenfeld: Ich sehe das nicht so pessimistisch. Sicher herrscht in der Debatte um die EU-Verfassung derzeit Uneinigkeit. Aber die Vergangenheit lehrt: Die größten Fortschritte hat Europa immer unter Druck gemacht. Und wenn die Europäer den Amerikanern künftig auf Augenhöhe begegnen wollen, müssen sie sich eben zusammentun.

Volksstimme: In welchen Bereichen sehen Sie vorrangig Integrationsbedarf?

Werner Weidenfeld: Besonders wichtig sind die Entscheidungsprozesse. Derzeit gilt das Prinzip der dreifachen Mehrheit auf der Grundlage des Nizza-Vertrags. Das heißt, eine Entscheidung im Europäischen Rat tritt erst in Kraft, wenn dahinter steht : erstens eine bestimmte Mehrheit der Bevölkerung, zweitens eine bestimmte Mehrheit der Mitgliedsstaaten und drittens eine bestimmte Mehrheit der so genannten gewichteten Stimmen. Das ist natürlich viel zu kompliziert.

Volksstimme: Würden Sie so weit gehen, für einfache Mehrheitsentscheidungen im Europäischen Rat zu plädieren?

Werner Weidenfeld: Ich würde so weit gehen, wie der Entwurf der EU-Verfassung. Er sieht eine doppelte Mehrheit vor: 55 Prozent der Staaten und 65 Prozent der Bevölkerung müssen einer Entscheidung zustimmen. Das ist eine überzeugende Lösung, weil wir in Europa so eine Art Minderheitenschutz erhalten.

Volksstimme: Wo sehen Sie außerdem Integrationsbedarf?

Werner Weidenfeld: Wir brauchen einen Ausgleich des strategischen Defizits. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik muss vertieft werden. Und wir müssen Militärstrukturen auf- und ausbauen.

Volksstimme: Die gibt es Ansatzweise schon. Die EU arbeitet beispielsweise an so genannten "Battle Groups", schnellen Einsatzkräften.

Werner Weidenfeld: Ich begrüße das ausdrücklich. Aber das reicht natürlich nicht. Ich würde mir wünschen, dass wir in vielleicht 20 Jahren eine europäische Armee haben. Und ich halte das auch für möglich. So würden die Amerikaner Europa viel eher als gleichberechtigten Partner wahrnehmen und auf die Stimme des alten Kontinents hören.


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