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Zugriffsrecht auf EU-Staaten

Interview mit Prof. Dr. Werner Weidenfeld in der Zeitschrift "EU-Nachrichten, 12/2004"

Die Bekämpfung des Terrorismus steht zusätzlich zu Fragen der Lissabon-Strategie und der Nachhaltigen Entwicklung auf der Agenda des Europäischen Rats, dem "Frühjahrsgipfel", in Brüssel. Aus diesem Anlass führten die EU-Nachrichten ein Hintergrundgespräch mit Prof. Werner Weidenfeld zu einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Kampf gegen den Terrorismus in der EU.

26.04.2004 · EU-Nachrichten 12/2004



EU-Nachrichten: "Terrorismusbekämpfung nicht nur national, sondern europaweit koordinieren" heißt die jüngste Studie der Bertelsmann Stiftung. Zu welchen Ergebnissen kommen Sie?

Werner Weidenfeld: Durch die Entwicklung des internationalen Terrorismus haben sich unsere Sicherheitslage und davon abgeleitet auch die Prinzipien der Sicherheitspolitik weitreichend verändert. Das Prinzip der Abschreckung ist nicht mehr tragfähig, weil terroristische Akteure heute nicht mehr mit der Androhung von Gegengewalt kalkulieren, nicht berechnen, ob ihr Angriff sich für sie auszahlt. Mit Selbstaufgabe und Selbstmord verbindet der Terror eine paradiesische Erfüllung, er entzieht sich jeder Abschreckungsdoktrin.

EU-Nachrichten: Was ändert dies für die Sicherheitspolitik?

Werner Weidenfeld: Terroristische Netzwerke sind außen und innen zugleich. Das elementare Defizit unserer Sicherheitspolitik besteht nicht allein darin, dass sie auf eine nicht mehr bestehende Gefahrensituation ausgerichtet ist. Sie ist auch viel zu sehr fragmentiert. Allein in Deutschland befassen sich gegenwärtig 36 Institutionen mit Fragen der Terrorismusbekämpfung. Dies führt naturgemäß zu Reibungsverlusten. Diese Zahl multipliziert sich noch um ein Vielfaches im Hinblick auf eine EU-Sicherheitspolitik.

Diese Defizite waren vor den Anschlägen offenkundig, wurden aber in Abrede gestellt. Unsere Studie wurde in Madrid nun auf traurige Weise bestätigt. Warum muss erst etwas Schlimmes passieren, bevor man eine optimale Organisation entwickelt, die man bei kühlem Durchdenken auch vorher hätte haben können?

EU-Nachrichten: Wie sehen Sie die Ergebnisse des jüngsten Rats der Innen- und Justizminister?

Werner Weidenfeld: Die Diskussion ist im Moment viel zu sehr auf Geheimdienste und Kriminalämter reduziert. Es geht weit mehr um kulturelle Fragen: Welche Strategie verfolgt der Terrorismus, welche Art symbolischer Kommunikation betreibt er? Der EU-Koordinator, der jetzt angedacht ist, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wir können das Thema aber nicht allein mit Organisationshinweisen abhaken. Wir brauchen weit mehr eine politische Analyse subtilster Art, die ständig fortzuschreiben ist, eine umfassende politische Strategie der Terrorismusbekämpfung.

EU-Nachrichten: Gibt es eine außenpolitische Dimension?

Werner Weidenfeld: Wenn die politische Welt in der arabischen Region nicht mehr verstanden wird, dann leistet das auch einen Beitrag dazu, dass der Terrorismus nicht effektiv bekämpft wird. Terroristen haben sich als "Ruheraum" unter anderem Indonesien und Malaysia vorgenommen. Welche Politik betreibt die EU diesen Ländern gegenüber? So muss man einen ganzen Katalog von Fragezeichen aufmachen.

EU-Nachrichten: Was erwarten Sie vom Europäischen Rat?

Werner Weidenfeld: Zur Politik gehört die Deklaration. Ich würde es aber begrüßen, wenn ein höherer Anteil an sachlicher Substanz zusätzlich damit verbunden wäre. Der Gedanke, die Informationen besser zu koordinieren, ist richtig, aber hilflos im Hinblick auf den Umfang der Aufgabe.

Die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit in Deutschland gleicht beispielsweise einem Ausschnitt aus dem Museum. Wie kann man einen Angriff auf ein Atomkraftwerk verhindern? Der Einsatz der Bundeswehr ist aber untersagt. Würde etwas in der Größenordnung von Madrid oder New York hier passieren, wäre über Nacht klar: Man muss die Sicherheitsdienste umstrukturieren. Man kommt zu einer anderen organisatorischen Konsequenz.

Ich sehe nicht den ernsthaften Versuch, den Informationsaustausch im Alltag zu organisieren. Der Koordinator müsste beachtliche Kompetenzen haben. Davon ist bislang kaum die Rede. Die EU benötigt daher ein Zugriffsrecht auf die diversen Institutionen der Mitgliedstaaten.


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