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Die EU aus der Binnensicht

Dr. Ingo Friedrich, Vizepräsident des EU-Parlaments a.D., zu Gast am C·A·P

08.07.2011 · C·A·P




Dr. Ingo Friedrich und Prof. Dr. Werner Weidenfeld

Die Eurokrise, der Vertrag von Lissabon oder die Wiedereinführung von Grenzkontrollen in Dänemark – an Themen für eine lebhafte Debatte mangelt es in Europa derzeit nicht. Ingo Friedrich, der dem Europäischen Parlament von 1979 bis 2009 als Abgeordneter angehörte, ist dafür aufgrund seiner langjährigen europapolitischen Erfahrungen bestens geeignet. In seinem Vortrag vermittelt Friedrich zunächst eine positive und optimistische Sichtweise auf die europäische Einigung und die Rolle, die das Parlament dabei gespielt hat. Gerade im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten der Parlamentarier erkennt er aber etliche Wahrnehmungsdefizite in der Öffentlichkeit. So werde beispielsweise die Relevanz eines möglichen Misstrauensantrags gegen die Kommission in der politischen Praxis gemeinhin überschätzt. Hingegen gebe es, trotz fehlender primärrechtlicher Bestimmungen, durchaus die Möglichkeit den Präsidenten der Kommission dazu zu bewegen, einzelne Kommissare auszutauschen. Auch fordere das Parlament die Kommission, bei der formal das Initiativmonopol liegt, weitaus häufiger als angenommen dazu auf, bestimmte Legislativverfahren zu initiieren.

Friedrich, der 30 Jahre Mitglied im EU-Parlament war – dabei von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe, im Anschluss bis 2007 Vizepräsident des Parlaments und zuletzt Quästor, obwohl selbst überzeugter Europäer, erkennt die Notwendigkeit an, dass die EU dem Bürger fortwährend vermittelt werden muss. Diese Sisyphus-Arbeit könne aber nur vor Ort gelingen, wenn insbesondere Seitens der Politik die Vorzüge Europas konsequent dargestellt würden. Gerade weil beim Bürger davon wenig verfängt, sei es erforderlich, sich dieser Aufgabe immer wieder zu stellen. Steigenden EU-Skeptizsmus erkennt Friedrich aber auch bei den „Eliten“. Heute existiere ein viel ausdifferenzierteres Europabild, als noch vor 20 oder 30 Jahren. Damit einher geht aber auch eine sukzessive Politisierung und Normalisierung des politischen System der EU. Dazu zählt Friedrich beispielweise die regelmäßigen Treffen von Vertretern der Europäischen Volkspartei, an denen er als EVP-Schatzmeister teilnimmt, oder zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament und der Kommission auf der einen und den Staats- und Regierungschefs auf der anderen Seite.

Als größte Herausforderung für die Politik im 21. Jahrhundert und die Europäische Union in besonderem Maße sieht das CSU-Vorstandsmitglied die wachsende Komplexität politischer Herausforderungen. Die Fülle an Themen und deren Vielfältigkeit, in Verbindung mit einem immer höheren Zeitdruck, stellen sich zunehmend als gravierendes Problem dar: „Politik fährt heute auf Sicht.“ Als Beispiel dafür führt Friedrich die Euro-Krise und die in diesem Zusammenhang schwelende Debatte um die finanziellen Hilfen für Griechenland an. Nach seiner Lesart stellt der Rettungsschirm keine Lösung dar, sondern verschaffe den handelnden Akteuren lediglich einen verlängerten Handlungsspielraum. Diese „gekaufte Zeit“ ermögliche es Europa, sich auf die schleichende Insolvenz Griechenlands vorzubereiten. Die größte Errungenschaft des europäischen Modells stellt für Friedrich dabei die Mischung aus ökonomischer und regulativer Logik dar. Da ein „entfesselter Markt in die Katastrophe“ führe, sei Europa schon heute besser in der Lage Krisen zu verhindern oder gegebenenfalls zu vermeiden als beispielsweise die USA. Um dauerhafte Stabilität herzustellen, reiche aber ein europäischer Alleingang nicht aus. Bei Fragen wie etwa dem Klimawandel, Cybercrime oder der Finanzmarktregulierung sei eine globale Lösung daher dringend geboten.

Alles in allem sieht Friedrich, der seit seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats und Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments ist, die EU aber auf einem guten Weg. Auch frühere Krisen hätten nicht zu einer Auflösung der Union geführt, sondern lediglich zu einer Anpassung an neue Herausforderungen. Sein Fazit lautete daher auch: „Europa ist heute der attraktivste Kontinent der Welt.“



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