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Europäische Identität – aber wie?

C·A·P-Konferenz zu neuen Herausforderungen und Strategien einer europäischen Identitätspolitik

23.06.2006 · Bertelsmann Forschungsgruppe Politik



Die gegenwärtige Orientierungskrise der Europäischen Union hat nicht zuletzt mit einer nur diffus ausgebildeten europäischen Identität zu tun. Doch gerade eine europäische Identität wäre grundlegend, damit die Europäische Union die notwendige Akzeptanz und Legitimation der Bürger gewinnen kann. Aus diesem Anlass veranstaltete das Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) zusammen mit der Bertelsmann Stiftung im Kontext des gemeinsamen Projekts "Das größere Europa" die Konferenz "Europäische Identität – aber wie?". In einer interdisziplinären Runde unter Leitung von C·A·P-Direktor Werner Weidenfeld diskutierten die Teilnehmer über historische Anknüpfungspunkte für eine europäische Identität, über die Herausforderungen für die europäische wie die nationale Ebene bei der Stiftung von Identität sowie über Strategien einer europäischen Identitätspolitik.


Prof. Dr. Wolfgang Schmale, Prof. Dr. Werner Weidenfeld, Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Prof. Dr. Thomas Meyer, Prof. Dr. Jürgen Kocka.

In seiner Begrüßung betonte Werner Weidenfeld, dass das Thema europäische Identität regelmäßig als reines Wohlfühlelement und Sprachfloskel verwendet werde. Die Suche nach der Identität Europas biete aber mehr als nur Material für die Satire der Feuilletons. Denn Identität stelle den Resonanzboden für jedes politische System dar und beinhalte somit einen Sachverhalt von hoher operativer Bedeutung. Ohne Identität müsse sich ein Gemeinwesen stets aufs Neue auf die elementaren Bausteine seines Zusammenlebens verständigen. Die aktuelle intensive Identitätsdebatte der EU wertete Werner Weidenfeld denn auch als Alarmzeichen. Vor allem in Problemphasen stelle sich die Frage nach der eigenen Identität.


Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin

Was ist "das spezifisch Europäische"?  Diese Frage beantworteten Julian Nida-Rümelin, ehemaliger Staatsminister für Kultur, und Jürgen Kocka, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin, im ersten Teil der Konferenz. Julian Nida-Rümelin erläuterte sein Konzept einer normativ gefassten Identität. Es umfasse drei zentrale Werte, die sich durch die Geschichte Europas ziehen: Autarkie, wissenschaftliche Rationalität und universalistisch verstandene Humanität. Alle diese Elemente seien schon in der Antike angelegt, so Nida-Rümelin. Aus ihnen lassen sich die gemeinsamen Werte Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die die Grundlage für die sich heute erst in Ausbildung befindende europäische Identität bilden, ableiten. Für Jürgen Kocka beruhte europäische Identität in der Vergangenheit auf gemeinsamen Kriegserfahrungen, dem Vergleich mit anderen Kulturen und auf Grenzziehung, die letztendlich immer politisch entschieden worden ist. Dabei warf er die brisante Frage auf, wie europäische Identität heute, nach Ende des Ost-West-Konflikts, ohne Krieg bzw. Kriegsgefahr auskommen wird. Jürgen Kocka erklärte zudem, dass Identität stets aus Verflechtung, aber auch aus Differenz gebildet werde. Europa habe immer von seiner Weltoffenheit gelebt, aber gleichzeitig Abgrenzung gegenüber den USA und der islamischen Welt betrieben.


Joachim Fritz-Vannahme von der ZEIT

Im zweiten Teil der Konferenz analysierte Wolfgang Schmale von der Universität Wien die Herausforderungen für die Europäische Union bei der Stärkung einer europäischen Identität. Um sich von im Kontext des Nationalstaats definierten Begrifflichkeiten zu lösen, will er Identität als Kohärenz in der Diversität verstehen. Der klassische Nationalstaat definiere sich nicht über "diversity", die Union hingegen schon. Mit der Definition der Europäischen Union als Netzwerkgebilde erteilte er zudem einem statischen Verständnis von Identität eine Absage, vielmehr sei eine ständige Beschaffung von Kohärenz nötig. Außerdem führte er als Alternative zu Identität den Begriff der Loyalität ein, da dieser weniger konfliktbeladen sei. Um den Unterschied zwischen nationaler und europäischer Identität zu verdeutlichen formulierte er abschließend eine provokante These: Für den Nationalstaat werde gestorben, für die EU nicht. In seinem Kommentar warnte Michael Weigl vom C·A·P vor zuviel europäischer Identität, da dies Schwierigkeiten für die Legitimität der Nationalstaaten verursachen würde. Bislang erschöpfe sich die identitätsstiftende Politik der Europäischen Union in Bewusstseinspolitik. Was sie aber nicht bereitstelle, sei eine Antwort auf die Sinnfrage. Die Sinnstiftung stelle denn auch die entscheidende Herausforderung dar. Ob dies auch politisch gewollt ist, stehe auf einem anderen Blatt und erweise sich als schwierig, solange sich die Union noch nicht in einen Föderalstaat gewandelt habe.

Wie kann man Identität stärken? Professor Thomas Meyer betonte die Bedeutung der politischen Identität. Diese sei essentiell für das Zusammenleben, auch wenn Übereinstimmung bei Glaubens- und Lebenskultur fehlen. Für das Entstehen von Identität sei Partizipation und die reale Erfahrung als Bürger wesentlicher als die Bildung. Deshalb sei es wichtig, Entscheidungen, Debatten und Mehrheitsentscheidungen öffentlich zu machen, da so Alternativen deutlich würden. Im Verfassungsvertrag sieht Thomas Meyer eine große Lücke zwischen sozialer Identität und den Instrumenten zur Implementation einer europäischen Sozialpolitik. Doch gerade diese sei zentral für die Selbstbehauptung der EU in der Globalisierung. Bettina Thalmaier vom C·A·P schloss sich in ihrem Kommentar der Meinung von Thomas Meyer an, Politisierung durch institutionelle Reformen, europäische Parteien und symbolische Personalisierung sei zentral für die Bildung von Identität. Als konkrete Maßnahmen zu Politisierung nannte sie die Direktwahl des Kommissionspräsidenten und Änderungen des Wahlsystems zum Europäischen Parlament. Dies seien Möglichkeiten für mehr Partizipation und damit auch mehr Interesse der Bürger an Europa, was auch zu mehr Aufmerksamkeit bei den politischen Akteuren und Medien führe.

Als Schlüsselfrage der Tagung, so Werner Weidenfeld, kristallisierte sich heraus, wie eine europäische Identität ohne eine unmittelbar äußere Bedrohung konstruiert werden könne. Die Kriegserfahrungen des 20. Jahrhunderts und der Holocaust sowie die anschließende Neuordnung des europäischen Kontinents erscheinen für das heutige europäische Bewusstsein zwar als tiefere Zäsur als alle vorherigen Kriege in Europa. Nachdem die alten Motive des europäischen Einigungsprozesses angesichts des erreichten Friedens in Europa aber zunehmend an Bedeutung verlieren, ist zu fragen, woraus Europa zukünftig seine Identität ziehen kann.


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