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Zukunftskolloquium der Tellux Film GmbH

Die Schwarm-Intelligenz setzt Trends in Medien und Gesellschaft

06.07.2005 · Forschungsgruppe Zukunftsfragen



Das Zukunftskolloquium der Tellux Film GmbH brachte am 30. Juni 2005 rund 30 Fachleute aus der Film- und Medienbranche sowie der Wissenschaft im Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) zusammen. In zwei Panels wurde über Kultur und Trends sowie über Gesellschaft und Werte diskutiert.


Die beiden Moderatoren des Workshops: Jürgen Haase, Geschäftsführer der Tellux Holding, und Werner Weidenfeld, Direktor des C·A·P.

Die Notwendigkeit einer solchen Diskussion machte zunächst der Direktor des C·A·P, Prof. Werner Weidenfeld, deutlich. Deutschland befinde sich momentan in einer Ära des Sinndefizits, das einen Kampf um Deutungshoheit nach sich ziehen werde. Als Ursache dafür machte Weidenfeld die tief greifenden Veränderungen in der Gesellschaft aus. Die Rahmenbedingungen von einst hätten heute ihre Gültigkeit verloren. Das gelte für die alten Ideologien, die Prägung über imperiale Herrschaftsräume, das Deutungsmonopol der Kirchen und schließlich das Erklärungsangebot des Ost-West-Konflikts mit seinem antagonistischen Menschenbild. Diffusität und Komplexität enormen Ausmaßes seien die Folge, welches die Politik und die klassischen Sinnproduzenten überfordere. Im Kampf um die Deutungshoheit gewönnen insbesondere die Bilder aufgrund ihrer Fähigkeit zur Reduzierung von Komplexität eine ungekannte Macht. Die Protagonisten der Film- und Medienbranche seien somit unverzichtbare Teilnehmer der Diskussion über die Gesellschaft der Zukunft.

Die Impulsgeber des ersten Panels waren Prof. Peter Wippermann vom Trendbüro Hamburg und Markus Peichl von der Cinecentrum Deutsche Gesellschaft für Film- und Fernsehproduktion mbH aus Hamburg. Wippermann stellte die digitale Vernetzung und die Schwarm-Intelligenz in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Er charakterisierte das Internet als die technische Revolution, der die Schwarm-Intelligenz als soziale Innovation folgte. Sie sei das Organisationsprinzip der Gesellschaft digitaler Gegenseitigkeit. Seien früher einzelne Führungspersonen im Fokus gestanden, so würden diese nun von Teams mit ihrer effizienteren Entscheidungsfindung abgelöst. Sie verhielten sich entsprechend der Schwarm-Intelligenz: strategisch zentral, aber taktisch dezentral. Jeder entscheide für sich, das Ergebnis liege eher im Dissens als im Konsens (wodurch sich die Schwarm-Intelligenz von Teamprozessen älterer Prägung unterscheide) und die interpersonale Konstellation sei von Dialog ohne Anweisungen von oben statt von Macht geprägt. Wippermann stellte drei Grundregeln für den Erfolg im Schwarm auf. Ein Mitglied solle sich in etwa in dieselbe Richtung bewegen wie seine Nachbarn. Dabei müsse es in die Richtung des Mittelpunkts derer steuern, auf die es abziele. Sobald dem Mitglied jedoch jemand zu nahe komme, gelte es sich wegzubewegen.


Über Kultur und Trends referierten der Producer von "Beckmann" Markus Peichl (Cinecentrum) und Peter Wippermann vom Trendbüro Hamburg.

Schließlich arbeitete er einige Trends der Medienbranche heraus. Wippermann bezeichnete Blogs als die Medien der Masse und Podcasting (Zusammensetzung aus iPod und Broadcasting) als das um sich greifende Prinzip der leeren Radiostation. Analog dazu entwickele sich das Prinzip des leeren Buches mit Wikipedia als herausragendem Beispiel. Hier übernehme die Schwarm-Intelligenz die Autorenschaft. Gemeinsam sei den Trends, dass sie Medien beförderten, deren Themen die Nutzer selbst bestimmen könnten. Darauf komme es der neuen Generation der Netzwerkkinder an. Sie seien zwar momentan in Deutschland gegenüber den Babyboomern und der Generation X noch in der Minderheit. Doch die heute unter 20-jährigen Netzwerkkinder machten bereits 18 Mio. Personen aus. Sie stellten sich ihre Personal Media zusammen, wofür Wippermann den Begriff Egocasting als Gegensatzsatz zum Broadcasting der beiden vorangegangen Generationen prägte.

Im Anschluss machte Peichl eine Bestandsaufnahme des Printmedienmarkts, die man auch auf den Fernsehmarkt übertragen könne. Er diagnostizierte eine kreative Stagnation. Zwar würden immer mehr neue Produkte auf den Markt geworfen. Diese seien jedoch zumeist beliebige und langweilige Kopien oder Kopien von Kopien. Es würden immer mehr Inhalte für immer weniger Geld produziert. Als Ursache sieht Peichl die wirtschaftliche Krise, in der kaum finanzielle Mittel für Neues bereitgestellt würden und das Management auf Sicherheit bedacht sei. Der Medienmarkt werde sich in der Folge zukünftig auseinander entwickeln. Das große untere Segment bildeten billige Produkte, die immer noch billiger würden. Im kleinen oberen Segment seien wenige qualitativ hochwertige Produkte zu finden, während das mittlere Segment praktisch verschwinde. Die Konsumenten zögen ihre Schlüsse und schrieben dem Medienangebot immer weniger Wert zu, während sie gleichzeitig das Übermaß an Kommunikation als Problem empfänden. Für die Medienbranche stelle dies wiederum einen Bedeutungs-, Vertrauens- und Imageverlust dar. Als Reaktion legt Peichl den Medien vier Antworten nahe: erhörte Frequenz und Penetranz, Qualität, Event-Charakter und Exklusivität. Um die Mitglieder der Schwarm-Intelligenz zu halten, müssten sich die Verantwortlichen in Print und TV hinsichtlich ihrer inneren Struktur zum kreativen Individuum bekennen. Notwendig seien Mut zum Experiment, Freiräume und ein Zusammenschluss von Kreativen und Managern, von Denkern und Ökonomen. Peichl zeigte sich allerdings skeptisch und prognostizierte auch für die Zukunft des Medienangebots Beliebigkeit und Inflation des immer Gleichen. Grundsätzlich würden zukünftig simple mythische und religiöse Botschaften sowie Innerlichkeit an Bedeutung gewinnen.

Seinen Ausführungen schloss Peichl eine Untersuchung der Avantgarde der heutigen Bilderwelt an. Er machte dabei fünf Trends aus: Eine Sehnsucht nach Beschaulichkeit und Idylle, gleichzeitig eine verklärte Beschäftigung mit der Realität, einen Hang zum Mythischen und Esoterischen, einen Egozentrismus sowie visuelle Gags mit einer Zersetzung der Wirklichkeit.

Im zweiten Panel diskutierten der Soziologe Prof. Ulrich Beck und der Religionswissenschaftler Prof. Michael von Brück, beide von der Ludwig-Maximilians-Universität München, über Gesellschaft und Werte. Beck ging mit literarischen Metaphern von Kafka und Nietzsche der Frage nach, wie Deutschland im Zeitalter der kosmopolitischen Interdependenz neu definiert werden kann. Dabei stellte er fest, dass die Politik die Herausforderungen der Zweiten Moderne mit den nationalstaatlichen Instrumenten der Ersten Moderne zu bewältigen versuche. Es bedürfe aber nach Beck eines grenzüberschreitenden Handlungsrahmens, einer europäischen Innenpolitik und darüber hinaus einer bi- und multilateralen Politik im internationalen Raum. Politik müsse heute Realdialektik zwischen Nation und Europa sein. Ein Verzicht auf Souveränität erweise sich dabei als ein Zugewinn an Souveränität. Dazu sei Deutschland aber nicht in der Lage, da es einem Wirklichkeitsverlust erlegen sei. Anstatt das kosmopolitisierte Europa der vielfältigen Identitäten anzuerkennen, seien die Menschen einem überkommenen nationalen Homogenitätsglauben erlegen. Mit ihrer kontinuierlichen Reproduktion einer Zombiewirklichkeit trügen die Medien hierzu mit bei, so Beck.

Brück untersuchte die Bedeutung der Religionen in unserer Gesellschaft. Er wies darauf hin, dass Religion und wissenschaftlich-wirtschaftlicher Fortschritt in Europa stets als Gegensatz aufgefasst würden. In anderen Kulturen verstünde man diese dagegen als Synthese und könne so ein viel ungebrocheneres Verhältnis zu Fortschritt, Kreativität und Innovation entwickeln. Hinsichtlich des interreligiösen Dialogs erklärte Brück, dass die Schnittmenge der religiösen Überzeugungen zweitrangig sei. Wichtiger seien die Art und Weise der gleichberechtigten Begegnung der Religionen. Als Strategie für das gesellschaftliche Zusammenleben in der Bundesrepublik solle ein neues Verständnis von Wertekonsens entwickelt werden. Im Mittelpunkt müssten weniger inhaltliche Wertvorstellungen stehen, als vielmehr der Konsens über gemeinsame Diskussionsmethoden. Brück plädierte darüber hinaus für einen religionskundlichen Schulunterricht, der die notwendigen interkulturellen Kompetenzen vermittele.

In seinem Fazit der Panels wies Prof. Weidenfeld auf die Durchschlagskraft der Kosmopolitisierung unserer Gesellschaft hin. Der Politik bereite es enorme Probleme, darauf zu reagieren. Sie verharre in ihren überkommen Strukturen und errichte eine nationalstaatliche Scheinwelt. Aber auch die Kirchen hätten noch keine Antworten gefunden auf die Pluralität moderner Gesellschaften. Hinsichtlich der Schwarm-Intelligenz beobachtete Weidenfeld, dass diese der Rationalität des letzten Gerüchts folge. Nicht nur die Medienbranche müsse somit die Bedeutung des kreativen Individuums erkennen, das den Schwarm zum Umlenken bringen könne.


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