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Geschichte als Chance – Geschichte als Last

Wissenschaft und Praxis diskutieren Forschungsergebnisse zu bayerisch-böhmischen Grenzregionen

18.07.2005 · Forschungsgruppe Deutschland



Über zwei Jahre lang forschten Politikwissenschaftler, Soziologen und Historiker der Universität München und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften mit Unterstützung der Volkswagen-Stiftung über den bayerisch-böhmischen Grenzraum. Sie gingen dabei der Frage nach, wie sich die Regionen selbst, aber auch den „Anderen“ jenseits der Grenze sehen. Vor allem ging es darum zu klären, welchen Einfluss Geschichte auf die gegenseitige bayerisch-tschechische Wahrnehmung ausübt. Dazu führten die Wissenschaftler über 120 Interviews mit Einwohnern des Grenzraumes und sammelten so ein bislang einmaliges und reichhaltiges Datenmaterial. Ihre Ergebnisse diskutierten sie nunmehr am vergangenen Donnerstag, 14. Juli, auf einer Konferenz im Tagungszentrum Furth im Wald mit mehr als 50 Teilnehmern aus Politik und Gesellschaft von Hof bis Waldkirchen.

Ein Ergebnis der Wissenschaftler ist so nahe liegend wie weitreichend: In Jahrhunderten gewachsene regionale Identitäten sind mit dafür verantwortlich, ob und wie sich Menschen für ihre Heimat und auch in der deutsch-tschechischen Nachbarschaft engagieren. Nur wer sich mit seiner Lebenswelt identifiziert, wer ihre Geschichte und Traditionen kennt, ist auch bereit, sich in seiner Region aktiv einzubringen: „Ich kämpfe für die Gegend (…) Mir gefällt’s hier.“ Allerdings ist das Wissen um diese Geschichte und Traditionen – so die Forscher – bei den meisten Menschen kaum verbreitet. Sollen die Regionen gestärkt werden, muss also auch der Geschichte der Heimat wieder ein größerer Stellenwert eingeräumt werden. Sollen die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den bayerischen und tschechischen Grenzregionen nachhaltig verbessert werden, müssen also auch die grenzüberschreitenden Traditionen und Geschichten des Raumes wieder entdeckt werden. Geschichte stellt sich damit als Chance, aber auch als Last für die Regionen und ihre Beziehungen zum Nachbar dar.


Dr. Václav Houžvička und Prof. František Zich

Dass es zur Erlangung dieses Ziels keine goldene Regel gibt, die es nur einzuhalten gilt, verdeutlichten sowohl für die bayerische Seite Dr. Michael Weigl als auch für die tschechische Seite Dr. Václav Houžvička und Prof. František Zich. In Bayern unterschieden sich die Antworten der Befragten in den Grenzregionen erheblich: Im südlichen Grenzraum erscheint der Nachbar weitgehend akzeptiert, wenn auch selten geliebt. Außerdem begegnen viele Bürger den Beziehungen mit großer Gleichgültigkeit. Im Norden hingegen ist die Zahl der Engagierten ebenso größer wie die Zahl der Skeptiker. In ausgesprochener Polarisierung wird dem tschechischen Nachbarn einerseits mit großer Aufgeschlossenheit, andererseits aber mit starker emotionaler Ablehnung begegnet. In Tschechien wiederum ist die Gruppe der am deutschen Nachbarn Desinteressierten ebenfalls in der Mehrheit. Die Zahl derjenigen, die sich engagieren, beschränkt sich auf eine Elite, die sich – anders als in Bayern – kaum aus der Zivilgesellschaft rekrutiert. Dass hier nach dem II. Weltkrieg infolge der Heimatvertreibung eine neue Bevölkerung siedelte, die sich nicht mit der Region verbunden fühlte, ist bis heute spürbar. Die Identifizierung mit der Region ist gerade bei der älteren Bevölkerung nur schwach ausgeprägt, die Geschichte des Raumes eng an die belasteten Seiten der deutsch-tschechischen Geschichte geknüpft.

Dass diese und weitere Differenzierungen auch regional unterschiedliche Strategien für die Verbesserung der Nachbarschaft in der Zukunft erfordern, verdeutlichte die Diskussion unter den Teilnehmern. Besondere Bedeutung wird dabei allerdings Regionen übergreifend der Jugend beigemessen. Ihr bislang gleichfalls kaum vorhandenes Interesse am Nachbar zu wecken, erscheint notwendig, um das bislang auf das großen Engagement Weniger gestützte Nachbarschaftsgeflecht nachhaltig zu verdichten und grenzüberschreitende Aktivitäten auch in Zukunft sicherzustellen. Es müsse, so ein Diskutant, vermittelt werden, dass auch die Sprache kein echtes Hindernis darstellt, den Nachbarn kennen- und schätzen zu lernen.

Ansprechpartner

Dr. Michael Weigl
Centrum für angewandte Politikforschung (CAP)
Forschungsgruppe Deutschland
Ludwig-Maximilians-Universität München
Geschwister-Scholl-Institut
Oettingenstr. 67
80538 München
Tel.: + 49 (89) 2180-9003
Fax: + 49 (89) 2180-9087


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