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Europäische Identität zwischen visionären Utopien negativen Stereotypen

Prof. Dr. Robert Picht im C·A·P-Kolloquium

Vortrag von Prof. Dr. Robert Picht, Professor am Europa-Kolleg Brügge und Vorsitzender des Kuratoriums der Allianz Kulturstiftung, zum Thema "Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft?" am 8. Juni 2004 am Centrum für angewandte Politikforschung.

11.06.2004 · C·A·P




Prof. Dr. Robert Picht und Prof. Dr. Werner Weidenfeld.

Die Bürger Europas erlebten eine politische Leitung von historischer Dimension: Aus dem "Europa der Sechs" entstand in wenigen Jahrezehnten eine wirtschaftliche und politische Union, die von den Azoren bis zum Baltikum reicht. Doch sind wir in diesem Gebilde "sui generis" auch auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft? Existiert eine auf gemeinsamen Werten basierende gesamteuropäische Identität? Wie wird Europa von seinen Bürgern heute wahrgenommen? Und welche Rolle kann der jungen europäischen Generation in diesem Zusammenhang zukommen? Diese Fragen besitzen nicht nur im Kontext der Europawahlen 2004 eine besondere Relevanz. Professor Robert Picht lieferte dazu Denkanstöße in Rahmen seines Vortrags am Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) am 8. Juni 2004.

Picht, Professor für Europäische Soziologie und Direktor für interdisziplinäre Studien am Europa-Kolleg Brügge und , stellte Forschungsergebnisse zu den Auswirkungen der europäischen Integration auf die Identität der Bürger in Europa vor. Zwar lebten wir in einer Zeit, in der nationale Identitäten wenn nicht vollständig abgelöst, so doch zumindest um weitere Identitätsschichten ergänzt werden, doch könne von einer europäischen Identität als konstitutivem Kriterium einer europäischen Gesellschaft kaum die Rede sein.

Grundsätzlich müsse die Frage gestellt werden, inwieweit individuelle Identitätsbildungsprozesse in Nationalstaaten auf das Gebilde Europa übertragen werden können. Angesichts der Erosion traditioneller Sozialisationsinstanzen wie Familie und Gruppenzugehörigkeit seien Stabilität, Berechenbarkeit und Verlässlichkeit stark minimiert. Dies könne bis zu Identitätsverleugnung und so genannten "disturbed identities" führen. Hinzu komme, dass Probleme wie Armut, soziale Ausgrenzung und die Abtragung des Wohlsfahrtsstaates durch die Erweiterung der Union eine neue, bedrohliche Aktualität erhielten. Die soziale Kohäsion als zentrales Bindemittel einer Gesellschaft sei stark gefährdet. Hier müssten die politischen Anstrengungen gebündelt werden, um ein solidarisches Europa zu errichten. Nur durch einen permanenten Lern- und Experimentierprozess zwischen allen Mitgliedstaaten sei eine Bewältigung dieser Herausforderung möglich.

Betrachtet man die Wahrnehmungsmuster zu Europa, lässt sich Picht zufolge eine extreme Polarisierung beobachten. Dieses "Vexierbild Europa" setze sich zusammen aus einem visionären Utopieansatz auf der einen und einem überaus negativen Stereotyp - europäische Verfilzung, Korruption und Skandale - auf der anderen Seite. Um diese Wahrnehmungsmuster zu ordnen, zieht Picht Jacques Delors' Konzeption eines "Europe Sociale" hinzu. Da die Legitimation der Europäischen Union nur auf Grundlage wirtschaftspolitischer und sozialer Kriterien funktioniere, hänge die künftige Tragfähigkeit der EU von der Fähigkeit der Mitgliedstaaten ab, einen europäischen Sozialvertrag zu gestalten und umzusetzen. Dieser müsse den hohen Anforderungen der Bürger an soziale Solidarität, Subsidiarität, Kohäsion und Wirtschaftswachstum gerecht werden. In einem dynamischen Lernprozess gelte es, eine neue Form der sozialen Marktwirtschaft in Europa zu errichten. Werde dies versäumt, drohten die allseits bekannten Gespenster aus ihren Verstecken hervor zu kommen: Eurosklerose, Populismus, Extremismus.

Doch welche Rolle kommt in diesem diffizilen, langwierigen Prozess der Identitätsbildung auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft der jungen Generation Europas zu?

Trotz der Bereitschaft vieler junger Europäer zu lebenslangem Lernen, Mobilität, Flexibilität und Leistung sei bei vielen Jugendlichen, ebenso wie in anderen Teilen der Bevölkerung, eine Bedrohungsperzeption gegenüber Europa zu beobachten. Einer Abwendung von Europa könne nur durch eine Stärkung der lokalen Ebene als Bindeglied zwischen Europa und den Bürgern entgegen gewirkt werden. Gerade diese soziale Kohäsion "von unten" und die Einbettung in das lokale und regionale soziale Umfeld könnten zur Sinnstiftung und zur Stabilisierung beitragen. Nur so könne schließlich die junge Generation eine europäischen Identität entwickeln und ihr Potential zur Schaffung einer europäischen Gesellschaft voll entfalten.


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