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Experten nehmen Parteien in die Pflicht

Deutschland-Dialog der Forschungsgruppe Deutschland am 14. und 15. November 2002 in München.

18.11.2002 · Forschungsgruppe Deutschland




Die Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland, Dr. Manuela Glaab, und Prof. Dr. Elmar Wiesendahl von der Universität der Bundeswehr in München. Foto: [meteme.de]

Immer mehr Bürger sehen sich durch die Parteien nicht mehr angemessen repräsentiert. Immer öfter versuchen Interessenorganisationen aus Gesellschaft und Wirtschaft ihren Anliegen an den Parteien vorbei politisches Gewicht zu verleihen. Die Kritik an den deutschen Parteien wächst von Tag zu Tag, sie drohen im fortschreitenden Gesellschaftswandel marginalisiert zu werden. Ob die Parteien für die neuen Herausforderungen gerüstet sind oder ob die Parteiendemokratie in Deutschland nicht vielmehr generell an ihre Grenzen gestoßen ist, diskutierten am 14. und 15. November Vertreter aus Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft auf Einladung der Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P) im Rahmen des "Deutschland-Dialoges der neuen Generation 2002".

Professor Wiesendahl von der Universität der Bundeswehr München betonte, dass sich das deutsche Parteiensystem von der Wählerschaft abgekoppelt habe. Es existiere ein verharzter Parteienstaat ohne demokratische Anbindung. Wiesendahls Fazit, das Modell der Mitgliederpartei sei ein "historisches Auslaufmodell", wollte sich jedoch Andreas Kießling von der Forschungsgruppe Deutschland nicht uneingeschränkt anschließen. Als eine von möglichen alternativen Trendoptionen des deutschen Parteiensystems formulierte er die Möglichkeit einer Revitalisierung genau diesen Parteitypus. Er verwies damit vor allem auf die notwendige Verbesserung der Mitgliederbetreuung der Parteien. Dem Einwurf, die Parteien selbst würden zu wenig Anreize zur aktiven Mitarbeit bieten und außerdem durch "Geheimrituale" gerade auf lokaler Ebene auch viele junge Interessenten abgeschrecken, stellte Wiesendahl die These der "apathischen Gesellschaft" gegenüber, in der es den Bürger gar nicht mehr nach Partizipation dränge. Die Konfliktlinie, um die sich alle Diskussionen des diesjährigen Deutschland-Dialoges rankten, war damit vorgegeben.

Während Lars C. Colschen von der Forschungsgruppe Deutschland aus Sicht des wertgeladenen Konzeptes der "Offenen Gesellschaft" von Sir Raimund Popper zu dem Schluss kam, dass die Parteien selbst Innovationsmöglichkeiten und Innovationschancen in der Gesellschaft blockierten, bezog Prof. Werner Sesselmeier von der Technischen Universität Darmstadt im politökonomischen Sinne auch den Bürger in seine Kritik ein. Der "schizophrene Wähler" erwarte sich von den Parteien einerseits Führung, andererseits strafe er in Wahlen denjenigen ab, der nicht nach seinem Willen handele. Professor Karl-Rudolf Korte von der Universität Duisburg ergänzte diese Aussage: Politiker könnten nur dann im verflochtenen System der Bundesrepublik innovativ handeln, wenn sie Führung mit einer wertgebundenen Politik verbänden.


Prof. Dr. Werner Sesselmeier und Dr. Michael Weigl.
Foto: Forschungsgruppe Deutschland

Auseinandersetzen muss sich die Politik künftig, dies verdeutlichte Ansgar Klein als Vertreter des Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, mit den Umgestaltungsprozessen innerhalb der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB). In Distanz zum gescheiterten "Bewegungsparteimodell" der Grünen bedienten sich Bewegungen wie ATTAC nun durch Professionalisierung und Ausdifferenzierung ihrer Tätigkeit konsequent der Inszenierung und Problemartikulation im öffentlichen Raum unter Umgehung der verkrusteten und behäbigen Parteistrukturen. Sie fokussieren sich dabei ganz auf Themen von "public interest" und stützen sich auf den von der Leiterin der Forschungsgruppe Deutschland, Dr. Manuela Glaab, konstatierten gesellschaftlichen Trend zur unpolitischen Lust an Aktionen. Um sich die massenmediale Aufmerksamkeit auch in Zukunft zu sichern, müssten sie allerdings sowohl auf eine fortgesetzte Sensationsspirale wie auch eine thematische Ausweitung setzen, womit die Parteien noch stärker unter Druck gerieten. Wenn auch die Neuen Sozialen Bewegungen keinen Ersatz für die Parteien darstellen, da sie mit ihren Inhalten und Mitteln die Masse der Bevölkerung nicht erreichen, könnten die Parteien dem Plenum zufolge doch von ihnen profitieren. Indem sie die NSB sowohl als thematische wie personelle "Schöpfquellen" ansehen, würde das Problem, dass sich mit den NSB informelle Machtzentren ohne demokratische Legitimierung bilden, zumindest entschärft.


Christoph Moosbauer, 1998-2002 MdB, SPD, und Dr. Martin Runge, MdL, Bündnis 90/Die Grünen. Foto: [meteme.de]

So wie sich die Neuen Sozialen Bewegungen immer dezidierter transnational verstehen, so sind Phänomene der Parteiendemokratie wie das Auftreten radikaler Parteien trotz aller systembedingter Unterschiede in beinahe allen westlichen Staaten anzutreffen. Wie Privatdozent Ulrich Eith von der Universität Freiburg verdeutlichte, waren rechtsradikale und populistische Parteien vor allem in diesen Staaten erfolgreich, die besonders ausgeprägt im Pietismus oder Katholizismus verankert sind und/oder in denen eine Konsensdemokratie gepflegt wird. Außerdem entstünden Gegenbewegungen immer dort, wo sich Christdemokraten und Sozialdemokraten thematisch angenähert hätten. Folge dieser Entwicklung sei, dass sich Konflikte nicht mehr an den Inhalten, sondern an der Kompetenzzuweisung entzündeten.

In den jungen Demokratien der mitteleuropäischen Staaten Polen, Ungarn und Tschechien ist demgegenüber nach Darstellung Johanna Schmidts von der Forschungsgruppe Deutschland eine starke Polarisierung mit einhergehender Verarmung der politischen Mitte festzustellen. Zur Stabilisierung der Parteiensysteme habe nicht zuletzt der erfolgreiche Transformationsprozess der postkommunistischen Parteien beigetragen. Dass sie inzwischen als professionelle Politakteure wahrgenommen würden, sei nicht zuletzt mit der straffen Parteidisziplin zu begründen, die eine Vernachlässigung der parteiinternen Demokratisierung beinhalte. Wenn es aufgrund der Partizipationsbedürfnisse der Bürger auch weder möglich noch wünschenswert sei, dieses Modell auf die westeuropäischen Staaten zu übertragen, könnten die Parteien - so ein Ergebnis der Diskussion - doch von der Output-Orientierung ihrer mitteleuropäischen Pendants lernen. Die Parteien müssten sich demnach wieder ihrer "Leuchtturm-Funktion" bewusst werden. Sie sollten ihre Anliegen und Ziele nicht nur besser an die Bürger vermitteln, sondern vor allem auch präziser deuten und erklären.

Die Dokumentation der Tagung wird im Frühjahr 2003 als Band 14 der Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland erscheinen.

Teilnehmer

  • Andreas Blätte M.A., Universität Erfurt

  • Jan Chaberny, Ludwig-Maximilians Universität München

  • Dr. Lars C. Colschen, Forschungsgruppe Deutschland, München

  • PD Dr. Ulrich Eith, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

  • Dr. Manuel Fröhlich, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

  • Dr. Manuela Glaab, Forschungsgruppe Deutschland, München

  • Dr. Gerhard Hirscher, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München

  • Daniel von Hoyer M.A., Forschungsgruppe Deutschland, München

  • Andreas Kießling M.A., Forschungsgruppe Deutschland, München

  • Dr. Ansgar Klein, Vorläufiges Koordinierungsbüro des bundesweiten Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, Frankfurt

  • Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte, Gerhard-Mercator-Universität, Duisburg

  • Andreas Meusch, Landesvertretungen der Techniker Krankenkasse, Hamburg

  • Patrick Meyer, Medienbüro Teuthorn & Meyer GbR, München

  • Christoph Moosbauer, 1998-2002 MdB SPD, München

  • Daniel Rentzsch, Junge Liberale Bayern e.V., Garmisch-Partenkirchen

  • Dr. Martin Runge, Bündnis 90/Die Grünen, MdL Bayern

  • Johanna Schmidt M.A., Forschungsgruppe Deutschland, München

  • Prof. Dr. Werner Sesselmeier, Technische Universität Darmstadt

  • Jürgen Turek, Centrum für angewandte Politikforschung (C·A·P), München

  • Nikolaus Turner, Kester-Haeusler-Stiftung, Fürstenfeldbruck

  • Dr. Michael Weigl, Forschungsgruppe Deutschland, München

  • Prof. Dr. Elmar Wiesendahl, Universität der Bundeswehr, München

Vorträge und Referenten

  • "Aus Alt mach Neu? Das Ringen der Parteien um die Basis"
    Prof. Dr. Elmar Wiesendahl, Universität der Bundeswehr München

  • "Offen für Erneuerung? Die Lernfähigkeit der Parteiendemokratie in Deutschland"
    Dr. Lars C. Colschen, Forschungsgruppe Deutschland, C·A·P
    Prof. Dr. Werner Sesselmeier, Technische Universität Darmstadt

  • "Was folgt aus der Normalisierung des Unkonventionellen? Die Zukunft der Neuen Sozialen Bewegungen"
    Dr. Ansgar Klein, Leiter des vorläufigen Koordinierungsbüros des bundesweiten Netzwerks zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge, Mitherausgeber des Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen

  • "Neue Mitte, neue Rechte, neue Linke? Europas Parteien in Bewegung"
    PD Dr. Ulrich Eith, Lehrstuhlvertretung Prof. W. Jäger, Geschäftsführer Arbeitsgruppe Wahlen der Universität Freiburg
    Johanna Schmidt M.A., Forschungsgruppe Deutschland, C·A·P

Literatur zum Thema

Hirscher, Gerhard/Karl-Rudolf Korte (Hrsg.): Aufstieg und Fall von Regierungen. Machterwerb und Machterosionen in westlichen Demokratien, München 2001.

Kießling, Andreas: Politische Kultur und Parteien im vereinten Deutschland. Determinanten der Entwicklung des Parteiensystems (Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 11), München 1999.

Schwabe, Christian: Der distanzierte Bürger. Gesellschaft und Politik in einer sich wandelnden Moderne (Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland, Bd. 12), München 2002.


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